Mindestlohn, Langzeitarbeitslosigkeit und Rechtsfolgen
von Andreas Hammer
Mit dem Mindestlohngesetz wurde in der deutschen Arbeitsmarktpolitik vermutlich erstmals das Merkmal „langzeitarbeitslos“ zu einem Tatbestandsmerkmal mit Rechtsfolgenwirkung erklärt. Bisher hatte das Merkmal „langzeitarbeitslos“ ausschließlich statistische Bedeutung.
Mit dem Mindestlohngesetz wurde der Ausnahmetatbestand vom Mindestlohn für die ersten sechs Monate bei Langzeitarbeitslosen eingeführt (§22 Abs. 4 MiLoG). Aus dieser gesetzlichen Regelung entstehen Probleme in der praktischen Umsetzung. Ihre Lösung ist noch nicht erkennbar.
Im Folgenden sollen kurz die Probleme benannt und Lösungsansätze diskutiert werden.
1 Definition von Langzeitarbeitslosigkeit und Umfang der Betroffenheit
In §18 SGB III ist definiert, wer langzeitarbeitslos ist:
„Langzeitarbeitslose sind Arbeitslose, die ein Jahr und länger arbeitslos sind. Die Teilnahme an einer Maßnahme nach § 45 sowie Zeiten einer Erkrankung oder sonstiger Nicht-Erwerbstätigkeit bis zu sechs Wochen unterbrechen die Dauer der Arbeitslosigkeit nicht.“
Um arbeitslos zu sein, müssen mehrere Anforderungen nach § 16 SGB III zugleich erfüllt werden.
„(1) Arbeitslose sind Personen, die wie beim Anspruch auf Arbeitslosengeld
1. vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen,
2. eine versicherungspflichtige Beschäftigung suchen und dabei den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung stehen und
3. sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet haben.
(2) An Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik Teilnehmende gelten als nicht arbeitslos.“
Ergänzend gilt nach § § 53a SGB II:
„(2) Erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die nach Vollendung des 58. Lebensjahres mindestens für die Dauer von zwölf Monaten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezogen haben, ohne dass ihnen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angeboten worden ist, gelten nach Ablauf dieses Zeitraums für die Dauer des jeweiligen Leistungsbezugs nicht als arbeitslos.“
Im August 2014 wurden von der Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) 1.077.000 Langzeitarbeitslose berichtet. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen betrug 37,1 Prozent. Von ihnen befinden sich 88,3% im Rechtskreis SGB II („Hartz IV“). Die Zahl der Betroffenen ist allerdings größer als die Stichtagsbetrachtung suggeriert, da es in einem Jahr sowohl Zu- wie Abgänge aus der Statistik gibt.
2 Rechtsfolgen der Langzeitarbeitslosigkeit
Liegt Langzeitarbeitslosigkeit vor, erhält ein Beschäftigter die ersten sechs Monate eines Beschäftigungsverhältnisses keinen Mindestlohn. Das bisherige statistische Merkmal wird somit zu einem Merkmal mit Rechtsfolge.
„§22 (4) MiLoG Für Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die unmittelbar vor Beginn der Beschäftigung langzeitarbeitslos im Sinne des § 18 Absatz 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch waren, gilt der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht.“
Wenn die Langzeitarbeitslosigkeit nicht korrekt festgestellt wurde, kann eine Rechtsfolge eintreten. Geht ein Arbeitgeber vom Vorliegen des Merkmals „langzeitarbeitslos“ aus und zahlt unterhalb des Mindestlohnes, dann verstößt der Arbeitgeber wegen Unterschreitung des Mindestlohnes gegen das Gesetz, wenn keine Langzeitarbeitslosigkeit gegeben war. Letztlich ist der Arbeitgeber für die richtige Eingruppierung der Vergütung sowie des Gesetzes verantwortlich und haftbar. Um dies zu vermeiden muss das Vorliegen des Merkmals „langzeitarbeitslos“ rechtssicher festgestellt werden.
Für den Beschäftigten wäre die Folge, dass er weniger als den Mindestlohn erhält, obgleich ihm der Mindestlohn zustehen würde.
3 Feststellen des Vorliegens des Ausnahmegrundes für den Arbeitgeber
Die Arbeitgeber werden die Ausnahme vom Mindestlohn bei Langzeitarbeitslosen nutzen wollen. Es handelt sich um eine Forderung des Arbeitgeberverbandes. Da ein Arbeitgeber selbst nicht in der Lage ist, die Langzeitarbeitslosigkeit festzustellen, wird er dem/der potenziellen Bewerber/in auferlegen eine entsprechende Bescheinigung beizubringen.
4 Bescheinigung der Langzeitarbeitslosigkeit
Das BMAS geht offensichtlich von einer Bescheinigungspflicht zur Langzeitarbeitslosigkeit aus (FAZ vom 21.7.2014). Eine solche Bescheinigungspflicht wurde aber weder im Gesetzgebungsverfahren erörtert oder geregelt. Eine Bescheinigungspflicht unterstellt, ergeben sich zahlreiche praktische Fragen.
- Existiert eine Rechtsgrundlage für eine Bescheinigungspflicht bzw. ist eine solche erforderlich?
Nach einer ersten Einschätzung ist keine Rechtsgrundlage bekannt. Sicherlich ist eine Rechtsgrundlage notwendig, wenn eine Pflicht zur Bescheinigung bestünde. - Welchen Rechtscharakter hätte die Bescheinigung? Wäre es ein Bescheid bzw. Verwaltungsakt?
Wenn ja, so müsste eine Widerspruchsmöglichkeit eingeräumt werden. Bei Beachtung der üblichen Widerspruchsfristen und –verfahren kann man davon ausgehen; dass eine offene Stelle besetzt ist, bis der Bescheid rechtskräftig wäre. Das wäre also praxisfremd. Eine Bescheinigung auf Vorrat ist keine Alternative, da ja jederzeit eine Unterbrechung der Langzeitarbeitslosigkeit eintreten kann. Eine Bescheinigung muss deshalb stets aktuell sein, wenn der Arbeitgeber kein Risiko eingehen will. - Wer kann oder darf oder muss die Langzeitarbeitslosigkeit ermitteln?
In Frage kommen die Jobcenter und die Agenturen für Arbeit (AA). Bisher erheben beide Organisationstypen das statistische Merkmal „langzeitarbeitslos“ und übermitteln die Daten an die Statistik der BA. Nach § 53 SGB II ist alleine die BA für die Statistik zuständig. Auswertungen dürfen die Jobcenter nicht selbst vornehmen. Bereits jetzt ist es so, dass die Jobcenter lediglich die Angaben zur Langzeitarbeitslosigkeit erheben, aber nicht feststellen. Allein die Statistik der BA entscheidet darüber, ob eine gemeldete Langzeitarbeitslosigkeit als solche gezählt wird.
Immer wieder gibt es sog. unplausible Werte. Die aktuelle Revision der Statistik zeigt erhebliche Verädnerungen bei den Langzeitarbeitslosen. Eine fehlerfreie oder einfache Ermittlung der Langzeitarbeitslosigkeit ist aufgrund der bisherigen Probleme mit Unterbrechnungstatsbeständen, den dazu notwendigen zahlreichen Informationen, die bei verschiedenen Organisationen vorliegen (z.B. Arbeitsunfähigkeit) sowie der Probleme der Software nicht möglich.
Ohne neue Bestimmungen müssten die Jobcenter auf die BA möglicherweise zurückgreifen, um das Merkmal aus ihrem Datenbestand auswerten zu können. Da die Mehrheit der Langzeitarbeitslosen im Rechtskreis SGB II registriert ist, ist ein solches Verfahren kaum praktikabel.
Infrage käme allenfalls eine Datenrückübermittlung an die Jobcenter, wozu jedoch eine Rechtsgrundlage fehlen würde.
Außerdem gibt es noch eine Einschränkung, die ebenfalls eine Rolle spielen könnte: Nach §51b SGB II sind die Zwecke geregelt, für die Daten verarbeitet und genutzt werden dürfen.
(3) Die nach den Absätzen 1 und 2 erhobenen und an die Bundesagentur übermittelten Daten dürfen nur – unbeschadet auf sonstiger gesetzlicher Grundlagen bestehender Mitteilungspflichten – für folgende Zwecke verarbeitet und genutzt werden:
1. die zukünftige Gewährung von Leistungen nach diesem und dem Dritten Buch an die von den Erhebungen betroffenen Personen,
2. Überprüfungen der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf korrekte und wirtschaftliche Leistungserbringung,
3. die Erstellung von Statistiken, Kennzahlen für die Zwecke nach § 48a Absatz 2 und § 48b Absatz 5, Eingliederungsbilanzen und Controllingberichten durch die Bundesagentur, der laufenden Berichterstattung und der Wirkungsforschung nach den §§ 53 bis 55,
4. die Durchführung des automatisierten Datenabgleichs nach § 52,
5. die Bekämpfung von Leistungsmissbrauch.
Da im Mindestlohngesetz keine Mitteilungspflicht vorgesehen ist, darf das Merkmal „langzeitarbeitslos“ vermutlich nicht für eine Bescheinigung zur Feststellung des Mindestlohnes aus dieser Datenübermittlung ausgewertet werden.
- Wer kann oder darf oder muss Langzeitarbeitslosigkeit bescheinigen?
Ohne Rechtsgrundlage gibt es dazu keine Antwort. Unter Berücksichtigung der vorherigen Aussagen könnte rein rechtlich gesehen am ehesten die Statistik der BA die Bescheinigung erstellen, da sie die Daten bereits verfügbar hat und ohne Weitergabe an Dritte auskommen würde. Das ist bisher weder deren Aufgabe noch praktikabel, da diese keine Kontakt zu Leistungsempfängern haben. - Muss der/die Langzeitarbeitslose die Bescheinigung dulden?
Möglicherweise muss er/sie die Bescheinigung seiner Langzeitarbeitslosigkeit nicht dulden, da dies eine Diskriminierung darstellen kann. Und bei einem Verwaltungsakt stünde ihm/ihr das Widerspruchsrecht zu. - Wer kann oder darf oder muss die ermittelte Langzeitarbeitslosigkeit als Information übermitteln?
Eine Informationsübermittlung an den Arbeitgeber durch Jobcenter oder Agentur für Arbeit ist ohne Rechtsgrundlage nicht vorstellbar. Eine notwendige Zustimmung seitens des Langzeitarbeitslosen kann angenommen werden, da er sich auf das Recht der informationellen Selbststimmung beziehen kann. Hinsichtlich des Datenschutzes gibt es keine Regelung im Mindestlohngesetz.
5 Persönliche Erklärung des Stellenbewerbers/-in
Statt den Weg über eine Bescheinigung zu gehen, wäre es grundsätzlich möglich eine Selbstauskunft des/der Stellenbewerbers/-in zuzulassen. Dann würde die/der Stellenbewerbers/-in im Bewerbungsverfahren dem Arbeitgeber gegenüber erklären langzeitarbeitslos zu sein. Dies ist aber nach § 22 (4) nicht möglich, da die Langzeitarbeitslosigkeit nach §18 SGB III berechnet wird. Den Arbeitsuchenden ist es in der Regel nicht möglich die verschiedenen Unterbrechungstatbestände und damit die Langzeitarbeitslosigkeit korrekt zu berechnen. Allerdings könnte man das Mindestlohngesetz dahin gehend ändern und der Bezug auf §18 SGB III entfernen. Selbst dann bleiben zwei Probleme bestehen:
- Der/die Stellenbewerbers/-in macht irrtümlich falsche Angaben zur Langzeitarbeitslosigkeit: Hier wäre zu klären, welche Rechtsfolgen für den Arbeitgeber und für den/die Bewerber/in auftreten.
- Der / die Stellenbewerber/-in macht absichtlich falsche Angaben: Hier wären ebenfalls die Rechtsfolgen für beide Vertragsparteien zu klären (s.u.).
6 Rechte und Pflichten des Langzeitarbeitslosen
Es ist anzunehmen, dass Langzeitarbeitslose eine Übermittlung des Merkmals „langzeitarbeitslos“ direkt an den Arbeitgeber ausschließen können; ebenfalls eine Datenübermittlung der Jobcenter an die Statistik der BA, da dieses Merkmal für einen anderen als die vorgesehenen Zwecke genutzt werden würde. Dies würde selbst dann gelten, wenn sie die Erstellung der Bescheinigung dulden müssten.
Da Langzeitarbeitslosigkeit als Diskriminierungsmerkmal gelten kann, könnte es dem Bewerber/ der Bewerberin analog zu anderen Diskriminierungsmerkmalen (z.B. Frage nach Schwangerschaft) erlaubt sein, im Bewerbungsgespräch unwahre Angaben zum Vorliegen der Langzeitarbeitslosigkeit machen ohne dass dies ihm/ihr daraus Nachteile erwachsen. Auch die Nicht-Weitergabe einer vorhandenen Bescheinigung wäre dann zulässig.
Auch ist anzunehmen, dass eine Ablehnung einer Beschäftigung unterhalb des Mindestlohnes bei einem langzeitarbeitslosen Leistungsberechtigten nach dem SGB II („Hartz-IV“-Empfänger/in) ohne Folgen bleiben dürfte. Denn ein Lohn unter 8,50€ pro Stunde soll die Regel sein, und eine Zahlung darunter die Ausnahme. Eine sanktionsbewehrte Vermittlung in eine Beschäftigung, die unterhalb des Mindestlohnes liegt, verbunden mit der Weitergabe einer Bescheinigung zur Langzeitarbeitslosigkeit an den Arbeitgeber, könnte folglich als nicht zumutbar gelten.
Zu befürchten steht, dass Langzeitarbeitslose ihre Rechte nicht wahrnehmen – sofern sie diese überhaupt kennen -, wenn sie Nachteile befürchten, die ihnen jetzt oder später bei einem Leistungsbezug widerfahren können.
7 Alternativen zur Bescheinigung der Langzeitarbeitslosigkeit
Eine Alternative zur Bescheinigung der Langzeitarbeitslosigkeit besteht in der persönlichen Erklärung des Bewerbers/der Bewerberin. Dazu müsste der Bezug auf §18 SGB III im Mindestlohngesetz entfernt werden. Zusätzlich bedarf es der Klärung der Rechtsfogen für den Fall, dass der Bewerbers/die Bewerberin irrtümlich oder absichtlich fehlerhafte Angaben macht. Eine Selbstauskunft hätte den Nachteil, dass Arbeitslose sich als Langzeitarbeitslose deklarieren, um sich eine Chance auf einen Arbeitsplatz zu eröffnen, und nur deshalb auf einen Mindestlohn verzichten, weil sie in der schwächeren Verhandlungsposition auf dem Arbeitsmarkt sind.
Eine andere Möglichkeit wäre die Erstellung einer Negativbescheinigung durch die Arbeitsverwaltung. Dies würde sehr bürokratisch und einen großen Aufwand zur Folge haben, da theoretisch für sehr viel mehr Personen eine solche Bescheinigung nötig wäre.
Die einfachste Alternative ist, die Ausnahmeregelung hinsichtlich der Langzeitarbeitslosigkeit im Mindestlohngesetz zu streichen.
Ein sehr ausführlicher Bericht zu diesem doch schon sehr wichtigen Artikel. Wie jede Veränderung bringt auch dies seine Vor- und Nachteile mit sich, aber letztendlich musste sich endlich etwas in diesem Bereich tun. Mit der Einführung des Mindestlohnes sollte das Thema allerdings nicht als erledigt angesehen werden. Hier muss sich auch in Zukunft noch einiges mehr ändern.
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Es ist doch so, dass der Arbeitgeber einen lückenlosen, wahrheitsgemäßen Lebenslauf erwartet bzw. auch verlangen kann. Aus diesem geht doch dann zwangsläufig hervor, ob jemand langzeitarbeitslos ist oder nicht. Sollte sich nach Einstellung herausstellen, dass der Bewerber hier vertuscht hat, kann der AG die Kündigung aussprechen. Wie reagiert das Jobcenter in so einem Fall?
Und was nutzen die Fragen, ob eine Bescheinigung über Langzeitarbeitslosigkeit verlangt werden darf oder nicht? Ob hier der Datenschutz greift oder nicht? Das recht große Risiko einer Sanktion liegt doch letztendlich (leider) beim Arbeitslosen.