Verschiebebahnhof von Eingliederungsleistungen für junge Menschen geplant: Betroffene werden nicht beachtet

Im Juni 2023 hat der Bundesarbeitsminister den Wechsel der Zuständigkeit für die Eingliederung junger Menschen in Arbeit und Ausbildung angekündigt, und zwar weg vom steuerfinanzierten Rechtskreis SGB II hin zum steuerfinanzierten Rechtskreis SGB III. Das Bundeskabinett hat diesen Plan beschlossen und er wurde in die Haushaltsplanung des Bundesfinanzministers übernommen.

Obgleich die Ankündigung zu Beginn der Parlamentsferien öffentlich wurde, gibt es seitdem eine große Zahl von Stellungnahmen (s. unten Dateien zum download; erg. 5.8.2023)), die diese Änderung ablehnen. Deren Inhalt wird hier nicht wiederholt, sondern ergänzt. Dabei stehen zwei Aspekte im Mittelpunkt: 1. die Stärkung der Bundesagentur für Arbeit, 2. die fehlende Sichtweise der Betroffenen.

Stärkung der Bundesagentur für Arbeit

Die geplante Änderung ist in der Erklärung des Bundesarbeitsministers vor allem fiskalisch begründet. Sie ergibt eine Entlastung des Bundeshaushalts zunächst für das Jahr 2024 von 900 Mio. Euro (Eingliederungsleistungen und Personal). Bei gleichbleibender Eingliederungsleistung würden dann Beitragsmittel aus der Arbeitslosenversicherung herangezogen werden müssen.

Allerdings ist zu erwähnen, dass der DGB gemeinsam mit der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 2016 vorgeschlagen hat, die Berufsorientierung und Ausbildungsberatung sowie Ausbildungsvermittlung und heranführende Hilfen aus einer Hand unter dem Dach der Arbeitslosenversicherung zu gewähren. Das ist insofern relevant, da Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit vertreten sind. Der DGB hat erst jetzt im Juli 2023 seine Position revidiert. Von der Arbeitgeberseite ist dies explizit noch nicht geschehen (erg. 19.8.2023: Position BDA).

In diesem Zusammenhang ist die Ankündigung des Zuständigkeitswechsels zumindest inhaltlich keine Überraschung. Dass der Zeitpunkt der Veröffentlichung zahlreiche Akteure, darunter die kommunalen Spitzenverbände, unvorbereitet getroffen hat, weist auf gestörte Kommunikationskanäle oder fehlendes Vertrauen zwischen Bundesarbeitsminister und Bundesagentur für Arbeit auf der einen Seite, und den übrigen Akteuren auf der anderen Seite, allen voran die Jobcenter, hin.

Gegen die fiskalische Begründung der geplanten Gesetzesänderung argumentieren die meisten Akteure in ihren Stellungnahmen gleichfalls fiskalisch oder fachlich-inhaltlich entlang ihren Organisationsinteressen.

Aber die Bundesregierung behauptet, dass die Verlagerung der Zuständigkeit zum SGB III die Effizienz und Effektivität bei der Erbringung von Leistungen zur Eingliederung junger Menschen unter 25 Jahren in Arbeit erhöhen wird, und die Leistungserbringung besser auf die Zielgruppe der jungen Menschen unter 25 Jahren abgestimmt wird.

In der Gesamtbetrachtung wäre der Umkehrschluss, dass von 2005 (Start des SGB II) bis 2022 die Leistungserbringung der Jobcenter nicht effektiv, nicht effizient und nicht auf die Zielgruppen gut genug abgestimmt war (wozu zumindest in den letzten Jahren keine größeren Problemanzeigen zu vernehmen waren, zumal ein großer Teil der Jobcenter die Ausbildungsstellenvermittlung an die Bundesagentur für Arbeit übertragen hat).

Ein weiterer Umkehrschluss wäre, dass die Eingliederung in Arbeit und Ausbildung von jungen Menschen entgegen der bisherigen, und vom Bundesverfassungsgericht bislang nicht beanstandeten, Praxis seit über 15 Jahren keine gesellschaftliche (und deshalb aus Steuern zu finanzierende) Aufgabe ist, sondern eine der Beitragszahlenden der Arbeitslosenversicherung (an der sich Beamtete oder Selbständige nicht beteiligen).

Letztlich geht es weniger um die Verlagerung von Kosten aus dem Bundeshaushalt hin zur Arbeitslosenversicherung als die – bereits im Koalitionsvertrag angelegte – Stärkung der Bundesagentur für Arbeit. Sie würde für die neue Aufgabe zusätzliches Personal erhalten. Eine solcher Aufwuchs in einer zentral gesteuerten Bundesbehörde ist für einen Bundesarbeitsminister eine größere Machtressource als die dezentral und gemeinsam von Arbeitsagenturen und Kommunen verantworteten Jobcentern. Insofern ist der Zuständigkeitswechsel weniger eine Planung des Bundesarbeitsministeriums als der im BMAS für das SGB III zuständige (Unter-) Abteilung. In der Konsequenz würden nach dem Zuständigkeitswechsel manche Jobcenter in ihrer Personalausstattung so klein werden, dass ihre „Betriebsgröße unwirtschaftlich“ wird. Die Folge wäre dann eine Zusammenlegung von Jobcenter zu größeren geografischen Einheiten, wie z. B. die Bezirke der Agenturen für Arbeit. Dies würde wiederum die jeweiligen Stadt- und Landkreise in ihrem Einfluss schwächen und den der Bundesagentur für Arbeit weiter stärken.

Fehlende Sichtweise der Betroffenen

In zahlreichen Stellungnahmen fehlt die Perspektive der betroffenen jungen Menschen unter 25 Jahren.

Was denken sich junge Menschen – ob arbeitslos oder nicht -, und auch ihre Angehörigen, wenn sie erfahren, dass die für sie vorgesehenen Eingliederungsleistungen aus fiskalischen Gründen einem Struktur- und Systembruch in der Leistungserbringung ausgesetzt werden? Wie wurden sie beteiligt und ihre Meinung zur größeren Effektivität und Effizienz eingeholt?

Die Ignorierung der Betroffenenperspektive könnte

  • das Vertrauen der unter 25-Jährigen in die Regierung, Parteien und den Wohlfahrtsstaat beeinträchtigen. Wenn junge Menschen und ihre Angehörigen das Gefühl haben, dass ihre Bedürfnisse und Interessen nicht berücksichtigt werden, kann dies zu einem Vertrauensverlust in die politischen Institutionen führen.
  • das Wahlverhalten der unter 25-Jährigen beeinflussen. Wenn junge Menschen und ihre Angehörigen das Gefühl haben, dass ihre Bedürfnisse und Interessen nicht berücksichtigt werden, können sie sich von den etablierten Parteien abwenden und populistischen Bewegungen zuwenden.
  • die soziale Ungleichheit verstärken. Wenn junge Menschen aufgrund fehlender oder reduzierter Unterstützung Schwierigkeiten haben, eine Arbeit zu finden und sich in die Gesellschaft zu integrieren, könnten sie eher dazu neigen, sich von der Gesellschaft abzukapseln und sich in sozialen Randgruppen zu bewegen.
  • auch als ungerecht empfunden werden, wenn bei den jungen Menschen der Eindruck entsteht, dass sie durch die Änderung im Vergleich zu anderen Gruppen benachteiligt werden.
  • die Erfolgschancen für diese Gruppe sinken und Diskriminierungsrisiken verstärkt auftreten, da die Arbeitslosenversicherung eher auf die Bedürfnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausgerichtet ist und weniger Erfahrung im Umgang mit Arbeitslosen und Hilfebedürftigen mit sog. multiplen Vermittlungshemmnissen hat.

Grundsätzlich sollten zunächst die Betroffenen beteiligt werden, damit sie ihre Bedürfnisse und Interessen mitteilen können. Danach können Optimierungen geplant werden, um sie so dezentral und wohnortnah wie möglich umzusetzen.

Ergänzt am 14.8.2023: Referentenentwurf zur Verschiebung der Zuständigkeit von unter 25-Jährigen

Der Referentenentwurf zum Haushaltsfinanzierungsgesetz (Stand 10.8.2023) enthält die geplanten Regelungen zur Verschiebung der Zuständigkeit von unter 25-Jährigen von den Jobcentern weg hin zur Bundesagentur für Arbeit (BA).

Hier der entsprechende Auszug:

Begründung
Der Übergang der Beratung, Vermittlung und Förderung von unter 25-jährigen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten vom Rechtskreis SGB II in den Rechtskreis SGB III führt zu Minderausgaben in Höhe von 0,9 Mrd. Euro jährlich für den Bundeshaushalt ab dem Jahr 2025. Davon entfallen rund 0,6 Mrd. Euro auf Ausgaben für Verwaltungskosten und Personal sowie 0,3 Mrd. Euro auf Ausgaben für Eingliederungsmittel. Dem stehen Mehrausgaben im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit in Höhe von rund 1,0 Mrd. Euro pro Jahr ab 2025 gegenüber, davon 0,7 Mrd. für Verwaltungskosten und Personal (enthält auch die unter Abschnitt E.3 dargestellten Angaben zum Erfüllungsaufwand) sowie 0,3 Mrd. Euro für Eingliederungsmittel. Durch die Erbringung der Leistung für alle jungen Menschen unter 25 Jahren, unabhängig davon, ob sie aus einem Haushalt kommen, der existenzsichernde Leistungen bezieht, können Synergieeffekte besser genutzt werden, als dies bei unterschiedlichen Zuständigkeiten der Fall wäre.
Die Kommunen werden durch den Übergang der unter 25-jährigen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten um rund 0,1 Mrd. Euro entlastet, da der kommunale Anteil an den Verwaltungskosten zukünftig im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit anfällt.

Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
In § 5 Absatz 4 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 (BGBl. I S. 850, 2094), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 17. Juli 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 191) geändert worden ist, werden nach dem Wort „haben“ die Wörter „oder die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“ eingefügt.

Alternativen
Alternativ kann für erwerbsfähige Leistungsberechtigte nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die bisherige aktive Förderung in den Jobcentern bestehen bleiben. Damit würde aber die Doppelspurigkeit mit vielen parallelen Förderangeboten und Strukturen im Dritten Buch Sozialgesetzbuch und im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch für junge Menschen, die insbesondere den Übergang von der Schule in den Beruf, die Ausbildungsvorbereitung und -vermittlung sowie große Teile der Ausbildungsförderung umfassen, erhalten bleiben.

Rechts- und Verwaltungsvereinfachung
Die Rechtsänderungen zum SGB II und SGB III bewirken eine Entlastung von Aufgaben und Verwaltungsvereinfachungen bei den Jobcentern. Durch den Wegfall des Abstimmungsaufwandes zwischen Jobcentern und Agenturen für Arbeit bei der aktiven Unterstützung bürgergeldbeziehender junger Menschen am Übergang von der Schule in den Beruf kann die Förderung gezielter und effizienter werden. Die Kostenträgerschaft für die Betreuung der jungen Menschen geht auf die Arbeitslosenversicherung (SGB III) über. Die Verwaltungsverfahren bei der Unterstützung der jungen Menschen am Übergang von der Schule in den Beruf werden vereinfacht, da für die berufliche Integration nur noch ein Rechtskreisträger zuständig ist.

Entgegen der behaupteten Doppelspurigkeit, die es abzubauen gilt, ändert das Haushaltsfinanzierungsgesetz auch das SGB III, damit die Leistungen für die unter 25-Jährigen überhaupt erbracht werden können.

Eine neue Parallelstruktur wird geschaffen: Transferleistung vom Jobcenter, Eingliederungsleistung von der BA.

Stellungnahmen

Stellungnahmen, die die Arbeitsgemeinschaft Bielefelder Beschäftigungsinitiativen gesammelt hat

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