Die PolitikerInnen, die das Sondierungspapier für die Regierungsbildung geschrieben haben oder schreiben ließen, haben sprachliche Feinheiten eingebaut.
Die betroffenen Regionen [Anm. AH: des Kohleausstiegsgesetzes] können weiterhin auf solidarische Unterstützung zählen. Maßnahmen des Strukturstärkungsgesetzes werden vorgezogen bzw. beschleunigt. Die flankierenden arbeitspolitischen Maßnahmen wie das Anpassungsgeld werden entsprechend angepasst. Niemand wird ins Bergfreie fallen. Geprüft wird die Errichtung einer Stiftung oder Gesellschaft, die den Rückbau der Kohleverstromung und die Renaturierung organisiert.
Ergebnis der Sondierungen zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, 2021, S. 3; (Hervorhebungen: AH)
Zu dieser Redewendung heißt es bei Wikipedia:
Während des Regalbergbaus mussten zur Finanzierung der Bergbeamten besondere Abgaben von den Bergbautreibenden entrichtet werden. Diese Abgaben waren das Rezessgeld und das Quatembergeld und wurden in den meisten deutschen Staaten erhoben. Die Abgaben wurden je nach Bergrevier teilweise zusammen oder getrennt veranschlagt, die Höhe der Abgaben wurde nach bestimmten Sätzen festgesetzt. Diese Sätze waren in der Regel abhängig von der Größe des verliehenen Grubenfeldes.
Das Rezessgeld musste für jedes vom Staat verliehene Bergwerkseigentum entrichtet werden. Dabei war es unerheblich, ob das Bergwerk in Betrieb war oder nicht. Das Rezessgeld musste regelmäßig zum Quartal an das Bergamt abgeführt werden. Hatte ein Bergwerkseigentümer das Rezessgeld am Ende des Quartals nicht bezahlt, so wurde er zunächst durch ein förmliches Schreiben vom Bergamt an die Zahlung erinnert. Wurde das Rezessgeld trotz Erinnerung in den drei darauf folgenden Quartalen (in Summe also vier Quartale) auch nicht bezahlt, so fiel das Grubenfeld oder Bergwerk an den Staat zurück und konnte an einen anderen Muter verliehen werden. Diesen Vorgang bezeichnete man mit dem Begriff ins Bergfreie fallen. Diese Regelung war nach der damaligen Fassung der Berggesetze notwendig, damit die erforderliche Freifahrung eines ins Bergfreie gefallenen Bergwerks auch begründet werden konnte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rezessgeld
Heute ist damit gemeint, dass kein Bergmann nach Schließung einer Zeche arbeitslos werden sollte.
Nun ist wohl anzunehmen, dass die Sondierenden durch den Sprachgebrauch „ins Bergfreie fallen“ den Betroffenen zeigen möchten, dass sie ihre Sprache sprechen. Auch um den Preis, dass viele andere LeserInnen des Sondierungspapiers außerhalb des Bergbaus mit dieser Redewendung nichts anfangen können. Man könnte der Einsatz dieser Redewendung auch als Anbiederung deuten. Die Sondierenden hätte demnach auch verständlicher schreiben können, dass wegen den vorgesehenen Maßnahmen niemand arbeitslos werden soll.
Das wäre dann allerdings dann ein Versprechen gewesen, dass von einer viel größeren Gruppe hätte überprüft werden können, ob es eingehalten wurde oder nicht. Das hätte auch den Nachteil gehabt, dass man das Wort „arbeitslos“ oder „Arbeitslosigkeit“ im Sondierungspapier hätte verwenden müssen. Obwohl Massenarbeitslosigkeit seit Jahren ein Problem darstellt (siehe hier), haben die Sondierenden darauf geachtet, dass das Wort in ihrem Ergebnispapier nicht vorkommt.
Auf die Ansage „Geprüft wird die Errichtung einer Stiftung oder Gesellschaft, die den Rückbau der Kohleverstromung und die Renaturierung organisiert.“ ist auf die Ruhrkohle AG bzw. die RAG-Stiftung hinzuweisen, die den Nachbergbau organisiert. Auch für die Ruhrkohle AG galt die Devise, dass niemand ins Bergfreie fallen sollte. Die Redaktion Revierkohle schrieb, dass dennoch 2019 200 Menschen eine Kündigung bekommen haben (https://www.revierkohle.de/rag-niemand-faellt-ins-bergfreie/). Die Betroffenen hatten lediglich befristete oder Zeitarbeitsverträge angeboten bekommen mit schlechterer Bezahlung.
Ziehen die Sondierenden prekäre Arbeit in Betracht um ihr Versprechen, dass niemand ins Bergfreie fällt, einzuhalten oder schließen sie dies aus?