Zurzeit ist das Wort „Totalverweigerer“ verstärkt im Umlauf.
Früher war es eine abwertende Bezeichnung für Männer, die aus Gewissensgründen sowohl den Kriegsdienst mit der Waffe (die mit einer „Gewissensprüfung“ verbunden war) als auch den Zivildienst verweigerten. Die sogenannten „Totalverweigerer“ mussten erhebliche Nachteile in Kauf nehmen. Diese reichten von Stigmatisierung über Bußgelder, polizeiliche Vorführung bis hin zu Haft sowie beruflichen oder finanziellen Nachteilen. Männer, die nach erfolgreicher Musterung beide Dienste verweigerten, waren Männer mit Haltung und „Rückgrat“.
Gegenwärtig wird der Begriff für Personen verwendet, denen vorgeworfen wird, eine Arbeitsaufnahme zu verweigern und gleichzeitig Sozialleistungen nach dem SGB II (Bürgergeld, Hartz IV) zu beziehen. Dabei wird der Begriff so verwendet, als gäbe es kein Recht, eine angebotene Arbeit abzulehnen. Dem ist nicht so. Unzumutbare Arbeit kann abgelehnt werden. Und selbst wenn es eine Sanktion im Sinne einer Leistungskürzung geben kann, hat das Bundesverfassungsgericht (BverfG) 2019 hier eine Obergrenze gezogen (grundsätzlich maximal 30 % des Regelbedarfs), da es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um ein soziokulturelles Existenzminimum handelt.
Eine Leistungskürzung um 100 Prozent Regelbedarf; ohne Kosten der Unterkunft und Heizung), wie sie die Bundesregierung jetzt umsetzt, und die Opposition gerne noch darüber hinausgehen möchte, ist theoretisch möglich. Im Urteil des BverfG von 2019 heißt es:
„Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ (Hervorhebung AH)
Diese theoretische „vollständige“ Leistungskürzung ist praktisch nur dann möglich, wenn eine Person nicht auf Leistungen nach dem SGB angewiesen, also nicht bedürftig ist (weil sie über ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügt). Eine Arbeit, die ein Jobcenter Leistungsberechtigten in dieser Konstellation zuweist, muss nicht nur zumutbar sein, sondern als Anforderung zusätzlich existenzsichernd sein (d.h. das Einkommen aus der Arbeit ist so hoch, dass keine Bedürftigkeit mehr vorliegt bzw. keine Leistungen nach dem SGB II zu gewähren wären).
Dieser Sonderfall wird selten eintreten bzw. vom Jobcenter tatsächlich und unmittelbar nachgewiesen werden können, um die Leistung auf Null zu setzen. Das für 2024 errechnete Einsparvolumen im Bundeshaushalt durch eine „Totalverweigerer“-Sanktion (also auf Null) impliziert rund 150.000 Sanktionsfälle. Das sind deutlich mehr als in der Zeit vor dem BVerfG-Urteil. Es liegt auf der Hand, dass dies zu einer Verschlechterung der Wahrnehmung der Jobcenter, der Gesprächsatmosphäre zwischen Leistungsberechtigten und Jobcentermitarbeitenden oder auch zu Ängsten führt. Dies gilt unabhängig von der Wirkung einer höheren Sanktion (vgl. Wirkung Höhe der Sanktion auf Integration).
Weiter nimmt die Bundesregierung in ihrer neuen Regelung auf das Wort „willentlich“ (s. Zitat oben) im BVerfG-Urteil Bezug:
„Abweichend von Absatz 4 Satz 1 entfällt der Leistungsanspruch in Höhe des Regelbedarfes, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte sich willentlich weigern, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen.“
(Entwurf eines Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024)
Dies macht eine Willensprüfung notwendig, die vermutlich über eine übliche Anhörung hinausgeht. Diese Anforderung gilt auch für Leistungsberechtigte mit psychischen Belastungen oder geringnen Deutschkenntnissen. Eine Willensprüfung erinnert weider stark an die Gewissensprüfung, ob ein Kriegdienstverweigerer aus Gewissensgründen als solcher anerkannt wurde. Aber auch hier hat das BVerfG klar gemacht, dass eine Sanktion nicht einfach beschieden werden kann:
„Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für dieses menschenwürdige Dasein zur Verfügung stehen …. Die den entsprechenden Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen
zu, ist dem Grunde nach unverfügbar … und geht selbst durch vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten nicht verloren …; sie kann selbst denjenigen nicht abgesprochen werden, denen schwerste Verfehlungen vorzuwerfen sind ….“ (Hervorherbung AH)
Es lassen sich nun drei typische Reaktionsweisen auf die „Totalverweigerer“-Sanktion unterscheiden:
- Zustimmung, insbesondere aufgrund mangelnder Kenntnis des genauen Wortlauts des BVerfG-Urteils und unvollständiger Information durch die Medien
- Skandalisierung,
- ◦ zu wenig Sanktionen, so von den Oppositionsparteien im Bundestag; bis hin zur Forderung der CDU, den aus der Ukraine nach Deutschland geflohenen Kriegsdienstverweigerern das Bürgergeld zu kürzen, womit sich der Kreis zum früheren Begriff „Totalverweigerer“ wieder schließt.
- ◦ zu viel Sanktionierung, vorgetragen von Wohlfahrtsverbänden u.a.
- Relativierung und Verharmlosung, das Ganze sei eine „Luftbuchung“ des Arbeitsministers oder es werde schon nicht so schlimm kommen wie befürchtet.
Unabhängig von der vorherrschenden Meinung, der Mißachtung des BVerfG und den typischen Reaktionsweisen und ist problematischer, dass die Bundesregierung mit der Sanktionsverschärfung gegenüber sogenannten „Totalverweigerern“ populistisch auf die Sanktionsdebatte reagiert, ohne die Sanktionsverschärfung in dem der Öffentlichkeit suggerierten Umfang umsetzen zu können. Dies stärkt dann zum einen populistische Positionen und deren Parteien einschließlich der Unterstellung, die Verschärfung nicht richtig umgesetzt zu haben oder die Verschärfung sei zu gering ausgefallen, und schwächt zugleich das Vertrauen in PolitikerInnen und den Rechtsstaat und deren Glaubwürdigkeit.
Ergänzt am 5.2.2024