Seit Jahren wird in der dominierenden Volkswirtschaftslehre und den Regierungen ein Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit unterstellt, wonach ein Wirtschaftswachstum Arbeitslosigkeit reduziert. Aktuell findet sich diese Behauptung auch in Parteiprogrammen zur Bundestagswahl 2021 wieder. So z. B. bei der CDU im Kapitel 3 des Wahlprogramms. Auf der Webseite https://www.ein-guter-plan-fuer-deutschland.de/ der CDU steht auch:
Nach der Pandemie muss Deutschland durchstarten. Das geht nur mit wirtschaftlicher Dynamik, erfolgreichen Unternehmen und Wachstum. Nur so gibt es auch in Zukunft sichere und gute Arbeitsplätze. (Zugriff: 21.8.2021; Hervorhebung: AH)
Beim Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit wird überdies angenommen, dass ab einem bestimmten Wachstum die Arbeitslosigkeit reduziert wird, die sog. Arbeitslosigkeitsschwelle. Übersteigt die Arbeitslosigkeitsschwelle die Beschäftigungsschwelle (Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung), dann sinkt die Arbeitslosigkeit, so die Behauptung.
Das Wirtschaftswachstum wird gemessen als das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt als Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent (Quelle: Statistisches Bundesamt) , die Arbeitslosigkeit wird gemessen als Arbeitslose zivile Erwerbspersonen in ihrer Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent (Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit).
Die Zeitreihe für das BIP-Wachstum seit 1992 zeigt, dass die Veränderung sich mit wenigen Ausnahmen in einem schmalen Korridor um den Mittelwert 2,62 % bewegt und positiv ist (Wachstum). Die Ausnahmen mit einer negativen Veränderung sind zeitlich in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 und der Corona-Pandemie 2020 zu verorten.
Anders stellt sich die Zeitreihe der Veränderung der Arbeitslosenzahl dar. Die Veränderungsraten liegen zwischen +18,9 % und -16,9 %. Der Mittelwert der Veränderungsraten liegt bei 0,47 %. Es gibt 12 Zunahmen der Arbeitslosenraten im Zeitraum 1992/2020.
Die Veränderung der Arbeitslosenzahl ist wesentlich dynamischer als die des realen Wirtschaftswachstums.
Für den gleichen Zeitraum lässt sich die Arbeitslosigkeitsschwelle ermitteln.
Eine Regressionsanalyse ergibt, dass ein Wachstum des BIP um rd. 3,6 % die Veränderungsrate der Arbeitslosenzahl um 1 Prozentpunkt reduziert (Arbeitslosigkeitsschwelle). Wie erwähnt beträgt der langjährige Mittelwert realen Wirtschaftswachstums 2,6 %. Im Trend reduziert demnach das Wirtschaftswachstum die Arbeitslosigkeit nicht wesentlich (um 0,5 Prozentpunkte).
Außerdem müsste die Arbeitslosigkeitsschwelle die Beschäftigungsschwelle noch übersteigen. In der Vergangenheit lag die Beschäftigungsschwelle bei 1 % – 1,5 % BIP-Wachstum.
Die Bestimmtheitsmaß R², welches die Stärke des Zusammenhangs der beiden Indikatoren BIP-Wachstum und Änderung der Arbeitslosenzahl anzeigt (0 = kein Zusammenhang, 1 = perfekter Zusammenhang), beträgt 0,138 (p=0,047). Nach den üblichen statistischen Maßstäben ist dieser Zusammenhang sehr klein.
Die Daten zeigen, dass das Wirtschaftswachstum die Veränderung der Arbeitslosenzahl kaum beeinflusst und Arbeitslosigkeit sich durch Wirtschaftswachstum für sich genommen nicht reduzieren lässt. Hier spielen weitere Indikatoren wie Arbeitsproduktivität oder Kurzarbeit eine Rolle.
Aussagen in Parteiprogrammen, die suggerieren, durch ein Wirtschaftswachstum Beschäftigung zu schaffen und dadurch dann Arbeitslosigkeit zu reduzieren, haben für den Zeitraum seit 1992 keine empirische Basis. Um Arbeitslosigkeit abzubauen braucht es andere Strategien.
(aktualisiert am 1.9.2021)