Die geplanten Änderungen durch das „SGB III-Modernisierungsgesetz“ (Gesetz zur Modernisierung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung) und die damit verbundenen Formulierungshilfen signalisieren in vielerlei Hinsicht eine Abkehr von den ursprünglichen Zielen des Bürgergeld-Gesetzes. Dazu kommen untergesetzliche Änderungen bei den Arbeitsgelegenheiten. Diese Entwicklung verdient eine differenzierte Betrachtung.
Beispiel 1: Änderungen des § 16j SGB II
Ein anschauliches Beispiel für diese Kehrtwende ist die geplante Entwicklung des § 16j SGB II:
1. Juli 2023:
Einführung des Bürgergeldbonus als Anreiz für die Teilnahme an bestimmten Maßnahmen.
2. Februar 2024:
Abschaffung des Bonus.
3. Geplant:
Einführung eines Integrationspraktikums mit Arbeitsverpflichtung für Flüchtlinge.
Diese Entwicklung des § 16j SGB II zeigt eine deutliche Verschiebung von einem Anreizsystem hin zu einer Verpflichtung.
Beispiel 2: Änderungen bei Arbeitsgelegenheiten
Eine weitere, bereits beschlossene signifikante Änderung betrifft die Handhabung von Arbeitsgelegenheiten (AGH):
- Bisherige Praxis: AGH als ultima ratio, nachrangigstes Instrument.
- Neue Weisung des Bundesagentur für Arbeit (ab 21.10.2024):
Verpflichtung zur AGH-Teilnahme für „Totalverweigerer“ (Personen, die drei Termine nicht wahrgenommen haben) als prima ratio. Dies gilt zumindest für die Jobcenter als gemeinsamen Einrichtungen und den zugelassenen kommunalen Trägern, soweit ihre Bundesländer sich die Weisung zu eigen machten.
Eine Zuweisung im Kontext „Maßnahme- und Terminverweigerung“ ist auch möglich, wenn ein Kooperationsplan nicht zustande kommt, obgleich hier nach § 15 (6) SGB II ein Verwaltungsakt vorgesehen ist und nicht eine AGH (§ 15 Abs. 6 SGB II: „Wenn ein Kooperationsplan nicht zustande kommt oder nicht fortgeschrieben werden kann, erfolgen Aufforderungen zu erforderlichen Mitwirkungshandlungen mit Rechtsfolgenbelehrung.“).
Damit wird die bisherige Interventionslogik des Kooperationsplans (siehe auch hier) und die der AGH mit dem Ziel der Beschäftigungsfähigkeit aufgelöst zugunsten einer AGH als Sanktion (zu Beiträgen AGH).
Diese Änderung stellt eine 180-Grad-Wende in der Anwendung von AGH dar und wirft Fragen zur Verhältnismäßigkeit auf. Es schmälert außerdem die Bedeutung des Kooperationsplans als „kooperatives“ zentrales Instrument.
Text der Weisung: Einsatz von AGH bei Maßnahme- und Terminverweigerung
Die Beschäftigungsfähigkeit kann auch dadurch erhalten oder wieder- erlangt werden, dass die Mitwirkungsbereitschaft verbessert oder wiederhergestellt wird. Dazu zählt eine (verbesserte) Motivation zur Arbeitsuche und -aufnahme sowie die Stärkung der Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, die Grundlagen für die Aufnahme einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt sind.
ELB, die sich der Teilnahme an Eingliederungsmaßnahmen in Arbeit nach §§ 16ff. SGB II verweigern und/oder wiederholt nicht zu Terminen beim Jobcenter erscheinen, können einer AGH mit Belehrung über die Rechtsfolgen zugewiesen werden.
Eine Maßnahmeverweigerung liegt vor, wenn:
- die/der ELB im Kooperationsplan festgehaltene Absprachen zur Teilnahme an Eingliederungsmaßnahmen, ohne wichtigen Grund, nicht einhält oder ein Kooperationsplan hierzu nicht zustande kommt bzw. unter Berücksichtigung anderer passender Maßnahmen nicht fortgeschrieben werden kann (die Regelun gen zu § 15, § 15a SGB II gelten entsprechend) und
- die/der ELB trotz Aufforderung zur Teilnahme an Eingliederungs- maßnahmen mit Rechtsfolgenbelehrung dieser nicht nachkommt, ohne dass hierfür ein wichtiger Grund vorliegt.
Eine Terminverweigerung im Sinne dieses Abschnitts liegt vor, wenn die/der ELB an drei aufeinander folgenden Terminen bei der IFK im Bereich Markt und Integration ohne wichtigen Grund nicht erscheint.
Um eine Verbesserung bzw. Wiedererlangung der Mitwirkungsbereitschaft zu erreichen, wird davon ausgegangen, dass im Regelfall eine kürzere Zuweisungsdauer von bis zu sechs Monaten ausreichend ist.
Mit einer kürzeren Zuweisungsdauer sollen Lock-in-Effekte der ELB verringert bzw. vermieden werden. Bei entsprechendem Bedarf kann die AGH verlängert werden oder die Zuweisung in eine andere AGH erfolgen.
Die IFK entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen über die Zuweisung in eine zumutbare AGH in jedem Einzelfall. Die Zuweisung erfolgt mit einer Rechtsfolgenbelehrung (Verwaltungsakt). Auf die geltenden Regelungen zu Leistungsminderungen bei Pflichtverletzungen (vgl. Fachliche Weisungen §§ 31, 31a, 31b SGB II) wird verwiesen.
Herausforderungen und Bedenken
1. Zeitdruck in Jobcentern:
Möglicherweise unzureichende Zeit zur Klärung von Gründen für Meldeversäumnisse.
2. Vulnerable Gruppen:
So gibt es neben einer fehlenden Mitwirkungsbereitschaft auch bedenkenswerte Erklärungen für Meldeversäumnisse bei Teilgruppen:
- Suchtkranke und psychisch Kranke, die wegen ihrer Erkrankung nicht immer so fit oder krankheitsfrei sind, Termine wahrzunehmen
- Langzeitarbeitslose mit veränderter oder verlorener Zeitperspektive (vgl. Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“, Jahoda et al., 1933).
Sie werden ihre Gründe nicht immer als „wichtigen Grund“ zur Vermeidung von Sanktionen oder von einer AGH-Verpflichtung geltend machen können, krankheitsbedingt oder weil ihnen das nicht bewusst ist.
3. AGH-Träger und Mischung von Teilnehmern in AGH:
Die gleichzeitige Anwesenheit von Personen, die aus verschiedenen Gründen – ultima ratio und prima ratio – verpflichtet wurden, kann für AGH-Träger herausfordernd sein.
Mögliche Intentionen der Gesetzesänderungen
Es ist anzunehmen, dass die Gesetzesänderungen darauf abzielen, die Effizienz des Systems zu steigern und die Integration in den Arbeitsmarkt zu beschleunigen. Allerdings sollten diese Ziele nicht auf Kosten der Unterstützung für besonders vulnerable Gruppen gehen und für Jobcenter und Träger in guter Qualität umsetzbar sein.
Lösungsvorschläge
Statt einer AGH-Verpflichtung bei Meldeversäumnissen sind Alternativen denkbar:
- Individuellere Betreuung: Mehr Zeit und Ressourcen für die Analyse individueller Situationen.
- Flexiblere Sanktionsmechanismen: Berücksichtigung persönlicher Umstände bei der Anwendung von Maßnahmen. Damit ist nicht gesagt, dass Sanktionen nachweislich die ihnen zugeschriebene Wirkung entfalten (zu Beiträgen Sanktion und Integration, TOTALVERWEIGERER früher und heute – von der Gewissensprüfung zur Willensprüfung und zum Thema Sanktion allgemein).
- Verstärkte Zusammenarbeit: engere Kooperation zwischen Jobcentern, Gesundheitseinrichtungen und sozialen Diensten.
- Evaluierung der Maßnahmen: Regelmäßige Überprüfung der Wirksamkeit und Anpassung bei Bedarf.
- Die Rechtsgrundlage in § 15 (6) SGB II ermöglicht einen Verwaltungsakt um Mitwirkungspflichten durchzusetzen, auch wenn ein Kooperationsplan nicht zustande kommt oder nicht fortgeschrieben werden kann. Es braucht dazu nicht zusätzlich die Zuweisung in AGH.
Fazit
Die geplanten Änderungen im SGB III-Modernisierungsgesetz und die neu anzuwendende Weisung zu den AGH stellen eine signifikante Abkehr von den ursprünglichen Zielen des Bürgergeld-Gesetzes dar. Während das Streben nach Effizienz verständlich ist, besteht die Gefahr, dass vulnerable Gruppen übermäßig belastet werden. Eine ausgewogene Herangehensweise, die sowohl die Ziele der Arbeitsmarktintegration als auch die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Personen berücksichtigt, wäre wünschenswert.