20 Jahre SGB II: Eine rechtliche Retrospektive der Grundsicherung für Arbeitsuchende

Vor 20 Jahren, zum 1.1.2005, trat die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) in Kraft. Dieses Gesetz hat zu umfangreichen Diskussionen, Demonstrationen und Forschungsarbeiten geführt. Das 20-jährige Jubiläum bietet Anlass, die weitreichenden Auswirkungen und Entwicklungen dieses Gesetzes zu reflektieren.

Im Folgenden soll lediglich der rechtliche Aspekt kurz beleuchtet werden.

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Ausgangspunkt

Ausgangspunkt für die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende war der „Statistikskandal“ bei der Bundesagentur für Arbeit, über den 2002 in der Öffentlichkeit berichtet wurde.

Dabei war etwa ein Drittel der Vermittlungen nicht nachvollziehbar und teilweise fingiert, andere Quellen sprechen von bis zu 70 % „falschen Stellenvermittlungen“. Frisierte Zahlen mittels „fiktiver SteA“ – so der Fachbegriff in den Arbeitsämtern für fiktive „Stellenangebote“ – sollten die Statistik positiv beeinflussen. Dies trug der BA in der Presse und Öffentlichkeit den Vorwurf der Manipulation ein. Weiterhin wurde der Umfang des Verwaltungspersonals (etwa 85.000) im Verhältnis zur Zahl der Vermittler (etwa 15.000) kritisiert.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Hartz-Konzept#Hintergrund)

Daraufhin setzte die Bundesregierung die „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ein, unter Vorsitz von Peter Hartz. Die Kommission sollte ein Konzept entwickeln, um die Bundesagentur für Arbeit zu modernisieren und die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren.

Ein Vorschlag der sog. Hartz-Kommission war die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Bundeskanzler Schröder kündigte an, die Vorschläge 1:1 umzusetzen. Bemerkenswert war, dass die weitreichenden Vorschläge einer demokratisch nicht legitimierten Kommission von der Bundesregierung ohne Hinterfragung übernommen werden sollten, auch wenn dies letztendlich nicht in vollem Umfang realisiert wurde.

Die unterschiedlichen Positionen von Bundesregierung und dem Bundesrat, der den Änderungen zustimmen musste, prägten das Gesetzgebungsverfahren. Auffällig war, dass die wesentlichen Verhandlungen außerhalb des dafür vorgesehenen Verfahrens – insbesondere dem Vermittlungsausschuss – geführt wurden. In informellen Gruppen wurden Entscheidungen vorbereitet, die dann in den offiziellen Gremien formal bestätigt werden sollten. Die erzielten Kompromisse spiegelten somit eher die Ansichten der politischen Führungsschicht wider als das Ergebnis einer breiten fachlichen Diskussion in einem transparenten demokratischen Verfahren.

2005 tritt „Hartz IV“ in Kraft

Das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“ ) vom 24. Dezember 2003 hatte dann die Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Gegenstand, welche zum 1.1.2005 in Kraft trat.

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende, das Sozialgesetzbuch II, ist seit ihrem Bestehen neben oder wegen politischen Entscheidungen der jeweiligen Bundesregierung von Rechtskonflikten bestimmt.

Die Rechtskonflikte lassen sich quantitativ als auch qualitativ fokussieren.

Quantitativ hat es von Anfang eine große Zahl von Widersprüchen und Klagen gegen Bescheide der Jobcenter gegeben, von denen einem relevanten Teil stattgegeben wurde (Klagen und Widersprüche im SGB II – Regionale Unterschiede der Abgänge). Dies könnte dazu beigetragen haben, dass Jobcenter ein schlechtes Image bekommen haben, und dass zugunsten des Forderns rechtswidrige Mittel eingesetzt werden.

Qualitativ haben die rechtlichen Auseinandersetzungen zu höchstrichterlichen Urteilen geführt, die zu Korrekturen der politischen Absichten geführt haben.

Hier einige Beispiele dafür:

2007: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erklärt die mit „Hartz IV“ eingeführten ARGEn, die damalige Organisationsform der Jobcenter, für verfassungswidrig. Daraufhin wurden 2010 das Grundgesetz geändert (Artikel 91e) und das Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende (§§ 75 und 76 SGB II) beschlossen.

2009: Das Bundessozialgericht (BSG) hält die Regelleistung für Kinder unter 14 Jahren für verfassungswidrig und legt die Vorschrift dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.

2010: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erklärt die Berechnung der Regelleistung generell für verfassungswidrig. Es hebt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hervor. Die Vorschriften bleiben bis zur Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, weiter anwendbar. Der Gesetzgeber reagierte darauf mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch 2011. Neu geregelt wurde z. B. die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf von Schülerinnen und Schülern. Es wurde bis dahin unterstellt, dass der Schulbedarf entweder im Regelsatz enthalten ist oder nicht anfällt. Ebenfalls wurde vom Gericht die abgeschlossene Liste von Härtefallgründen bei Mehrbedarfen beanstandet. Mit dem Änderungsgesetz wurde u. a. Eingefügt: „Für Leistungsberechtigte wird ein Mehrbedarf anerkannt, wenn deren Ernährungsbedarf aus medizinischen Gründen von allgemeinen Ernährungsempfehlungen abweicht und die Aufwendungen für die Ernährung deshalb unausweichlich und in mehr als geringem Umfang oberhalb eines durchschnittlichen Bedarfs für Ernährung liegen (ernährungsbedingter Mehrbedarf). Dies gilt entsprechend für aus medizinischen Gründen erforderliche Aufwendungen für Produkte zur erhöhten Versorgung des Stoffwechsels mit bestimmten Nähr- oder Wirkstoffen, soweit hierfür keine vorrangigen Ansprüche bestehen.“ Bis dahin wurde die für Diätlebensmittel erhöhten Kosten nicht vom Jobcenter als Härtefall übernommen, obgleich im Regelsatz dafür kein Betrag vorgesehen war. Das gleiche gilt z. B. für besondere Pflegeprodukte bei Neurodermitis.

2019: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erklärt die Sanktionierung von Regelleistungen um 60 % oder 100 % für verfassungswidrig. Die gesetzliche Neuregelung zum Urteil des BVerfG 2019 erfolgte erst mit dem Bürgergeldgesetz zum 1.1.2023.

Rechtssprechung und Rechtssetzung

Das Bürgergeldgesetz wurde innerhalb kurzer Zeit zum Thema Sanktionierung erneut geändert und eine weitere Änderung steht an. An zwei Beispielen kann gezeigt werden, wie der Gesetzgeber den rechtlichen Spielraum des BVerfG maximal ausnutzt und eventuell auch wieder überdehnt, was zu erneuten Gerichtsverfahren führen kann.

Beispiel Sanktion 100 % des Regelsatzes

Im Urteil des BverfG von 2019 heißt es (s. Totalverweigerer früher und heute – von der Gewissensprüfung zur Willensprüfung ):

Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ (Hervorhebung AH)

Diese theoretische „vollständige“ Leistungskürzung ist praktisch nur dann möglich, wenn eine Person nicht auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen, also nicht bedürftig, ist (weil sie über ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügt). Eine Arbeit, die ein Jobcenter Leistungsberechtigten in dieser Konstellation zuweist, muss nicht nur zumutbar sein, sondern als Anforderung zusätzlich existenzsichernd sein (d.h. das Einkommen aus der Arbeit ist so hoch, dass keine Bedürftigkeit mehr vorliegt bzw. keine Leistungen nach dem SGB II zu gewähren wären).

Im SGB II wurde folgender Absatz neu in § 31a im Frühjahr 2024 aufgenommen:

(7) Abweichend von Absatz 4 Satz 1 entfällt der Leistungsanspruch in Höhe des Regelbedarfes, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte, deren Bürgergeld wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, Absatz 2 Nummer 3 oder Absatz 2 Nummer 4 innerhalb des letzten Jahres gemindert war, eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen. Die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme muss tatsächlich und unmittelbar bestehen und willentlich verweigert werden. Absatz 1 Satz 6, die Absätze 2 und 3 sowie § 31 Absatz 1 Satz 2 finden Anwendung.

Nach dieser Grundlage können oder sollen Leistungsberechtigte bis zu 100 % („entfällt der Leistungsanspruch in Höhe des Regelbedarfes“) sanktioniert werden können, 1. wenn eine Arbeit zumutbar ist, 2. die Arbeitsaufnahme tatsächlich und unmittelbar möglich ist und 3. diese willentlich verweigert wird. Das BVerfG hat aber zudem 4. vorgegeben, dass für eine Sanktion von 100 % des Regelsatzes, die Erzielung des Einkommens existenzsichernd sein muss. Das bedeutet, dass das Erwerbseinkommen durch Arbeitsaufnahme so hoch ist, dass kein Leistungsanspruch im SGB II mehr besteht. Die Anforderung „existenzsichernd“ fehlt im geänderten SGB II. Ob das Absicht oder Zufall ist?

Beispiel Sanktionsdauer

Im Urteil des BVerfG von 2019 heißt es in einem Leitsatz:

§ 31a Absatz 1 Sätze 1, 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch … ist für Fälle des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der genannten Fassung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar, … und soweit § 31b Absatz 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch für alle Leistungsminderungen ungeachtet der Erfüllung einer Mitwirkungspflicht oder der Bereitschaft dazu eine starre Dauer von drei Monaten vorgibt.“

Erklärt ein Leistungsberechtigter nach verhängter Sanktion beispielsweise nach einem Monat mitzuwirken, ist eine Sanktion von drei Monaten Dauer zu verkürzen.

Nun plant die Bundesregierung im Herbst 2024 folgende Änderung des § 31 Absatz 2 Satz 1 SGB II: „Der Minderungszeitraum beträgt drei Monate.“ (Quelle: Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung (Drucksache 20/12779))

Demnach soll hier erneut eine starre Sanktionsdauer von drei Monaten (das war auch die Rechtslage vor dem Urteil des BVerfG) eingeführt werden.

In der Formulierungshilfe Bundesregierungsfraktionen heißt es dazu gegenteilig: „Die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Leistungsminderung (Prüfung eines wichtigen Grundes, Möglichkeit der Nachholung der Mitwirkung, Härtefallprüfung, Möglichkeit der persönlichen Anhörung) gelten unverändert.“

Dieser Änderung ist im Gesetzgebungsverfahren und noch nicht beschlossen.

Erklärende Betrachtung

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) war und ist unter einem rechtlichen Blickwinkel einer hohen Dynamik ausgesetzt. Dies zeigt sich nicht nur in zahlreichen Widersprüchen, Klagen und grundlegenden höchstrichterlichen Urteilen, sondern auch in den häufigen Rechtsänderungen des SGB II. Der Gesetzgeber hat innerhalb weniger Jahre mehrfach die Gesetzeswidrigkeit durch das BVerfG bescheinigt bekommen. Aber auch im Bereich der Instrumente zur Eingliederung gab es zahlreiche Änderungen (Beispiel § 16e SGB II: Bürgerarbeit, Beschäftigungszuschuss, Förderung von Arbeitsverhältnissen, Eingliederung von Langzeitarbeitslosen). Die Änderungen waren und sind teilweise in schneller Abfolge (z. B., Regelung zu Sanktionen, Einführung des Bürgergeldbonus zum 1.7.2023 und seine Abschaffung zum Februar 2024), dass ihre Wirksamkeit nicht gemessen oder evaluiert werden konnte.

Eine Erklärung für diese Dynamik liefert der Ausdruck „tyranny of transformation“ (Tyrannei der Veränderung) von John Clarke und Janet Newman. In ihrem 1997 erschienenen Werk „The managerial state: power, politics and ideology in the remaking of social welfare“ beschreiben sie die Umgestaltungen im Wohlfahrtsstaat und deren Auswirkungen auf Macht, Politik und Ideologie.

Das SGB II dient in diesem Kontext als Experimentierbaustelle, bei der Veränderungen des Wohlfahrtsstaats erprobt und getestet werden – daher die häufigen Änderungen. Beispielsweise gab es mehrere Anpassungen bei den Sanktionen in Höhe, Dauer und Ausnahmen. Bewährte Änderungen hat der Gesetzgeber in andere Sozialgesetzbücher übernommen, z. B. die Potenzialanalyse und Eingliederungsvereinbarung in das SGB III.

In der Tendenz geht es um einen Umbau von einem konservativ-kontinentaleuropäischen zu einem liberal-angelsächsischen Typ von Wohlfahrtsstaat (im Sinne von Gøsta Esping-Andersen). Beim ersteren sind Leistungen an Arbeit und vorherige Beiträge zu Sozialversicherungen gebunden, beim letzteren dominieren Marktlogik (einschließlich der Ausschreibung von Maßnahmen statt Zuwendungsrecht) und private Absicherung. Sozialstaatsleistungen sind hier gering ausgeprägt und an Bedürftigkeitsprüfungen gekoppelt, während eine Lohnuntergrenze durch Mindestlöhne gesichert wird.

Damit einher geht auch eine Veränderung der Steuerungsmechanismen (s. Hammer 2007: Sozialplanung der Kommune im Kontext SGB II. In: bp:k e. V (Hrsg.) Steuerung im SGB II – im Spannungsfeld von Bund, Kommunen und Fachpraxis, S. 68 – 72): Bisherige Systeme der Interessenvertretung und -planung werden abgelöst durch Output-Steuerung, Budgetierung und operatives Controlling. Zudem wird der Kundenbegriff für Bürgerinnen und Bürger eingeführt, die ihre Rechte wahrnehmen .

Ausblick

Angesichts der bisherigen Entwicklung und der aktuellen Gesetzgebungsverfahren im Jahr 2024 ist davon auszugehen, dass auch künftig mit häufigen rechtlichen Änderungen im Bereich des SGB II zu rechnen ist. Dabei zeigt die Erfahrung, dass einige dieser geplanten Änderungen möglicherweise erneut verfassungsrechtliche Prüfungen nach sich ziehen werden.

Die Tendenz zur Umgestaltung des Wohlfahrtsstaats scheint sich fortzusetzen. Dabei lässt sich bei den maßgeblichen politischen Akteuren eine gewisse Kontinuität in der Ausrichtung der Sozialgesetzgebung beobachten. Diese zielt tendenziell darauf ab, die Leistungen nach dem SGB II restriktiv zu gestalten und den Wohlfahrtsstaat weiter in Richtung eines stärker liberalen, marktorientierten Modells umzubauen.

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