Hat das Bürgergeld zu mehr Leistungsberechtigten geführt? Eine Wavelet-Analyse

Die politische Diskussion zum Bürgergeld war und ist geprägt von Spekulationen über großzügige Leistungen, reduzierte Sanktionen und eine vermeintliche Annäherung an ein bedingungsloses Grundeinkommen. Diese Narrative führten bereits zu Gesetzesänderungen, darunter verschärfte Sanktionen und geplante Einschränkungen bei der Vermögensanrechnung. Doch basieren diese Entscheidungen auf Fakten oder Vermutungen?

Um Licht ins Dunkel zu bringen, nutzt diese Studie die Methode der Wavelet-Analyse. Dieses bisher selten auf deutsche Arbeitsmarktdaten angewandte Verfahren ermöglicht die Frage zu klären, ob das Bürgergeld zu mehr Leistungsberechtigten geführt hat.

Der folgende Text ist eine Kurzfassung. Die Langfassung gibt es hier zum download:

1. Untersuchungsfrage und Datengrundlage

Die Studie untersucht, ob es durch das Inkrafttreten des Bürgergeldgesetzes am 1.1.2023 tatsächlich zu einem signifikant erhöhten Zugang von Leistungsberechtigten in das Leistungssystem SGB II gekommen ist?

Als Datengrundlage dient die monatliche Zeitreihe der Zugänge der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (ELB; Quelle der Daten: Statistik der Bundesagentur für Arbeit) für den Zeitraum Januar 2007 bis April 2024 für den Rechtskreis SGB II mit 208 Daten­punkten (zur den Abgangsraten siehe: Beschleunigt der Job-Turbo die Arbeitsauf­nahme von Flüchtlingen im Bürgergeld-Bezug? und Dynamik der Arbeitsmarktintegration: Eine Zeitrei­hen-Analyse der Abgangsraten aus Arbeitslosig­keit für den Rechtskreis SGB II ).

Für die weitere Betrachtung werden von diesen Daten zwei Abzüge vorgenommen:

  1. ELB, die bereits Leistungen bezogen haben. Es ist plausibel anzunehmen, dass Personen, die bereits Leistungen nach dem SGB II bezogen haben, nicht erstmals Leistungen beantragen, weil das Bürgergeldgesetz eine großzügigere Leistungsgewährung ermöglicht.
  2. ELB mit ukrainischer Staatsangehörigkeit ab Juni 2022. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Leistungszuständigkeit für ukrainische Flüchtlinge per Gesetz vom Asylbewerberleistungsgesetz auf das SGB II umgestellt. Für diese Gruppe spielen die Änderungen des Bürgergeldgesetzes in Bezug auf die Fragestellung keine Rolle.

Die verbleibenden bereinigten Zugangszahlen bewegen sich zwischen ca. 83.000 (Maximum Januar 2007) und ca. 18.000 (Minimum Mai 2022) in einem Monat.

2. Untersuchungsmethode

Die Analyse steht vor Herausforderungen, die die Wahl der Untersuchungsmethode beeinflusst haben.

Die Zeitreihe enthält nicht nur die üblichen Saisonalitäten, hier z. B. zum Jahreswechsel, und Autokorrelationen, sondern auch die Einflüsse von Krisen (Krieg, Pandemie, Zuwanderung 2015ff). Diese überlagern sich teilweise. Um deshalb die Varianz der Zeitreihe zu stabilisieren und nichtlineare Zusammenhänge zu linearisieren, wurden die Daten logarithmiert.

Um der Komplexität der Zeitreihe gerecht zu werden, wurde eine Analyse der kontinuierlichen Wavelet-Transformation durchgeführt.

Eine Wavelet-Transformation hat im Vergleich zu anderen Methoden verschiedene Stärken (ausführlich zu Wavelets: Torrence, C. & G.P. Compo. 1998. A practical guide to wavelet analysis. Bulletin of the American Meteorological Society 79:61-78):

  1. Sie kann mit nicht-stationären Zeitreihen umgehen.
  2. Sie erlaubt die gleichzeitige Analyse von Zeitreihen auf verschiedenen Frequenzniveaus.
  3. Sie kann strukturelle Brüche, hier die Gesetzesänderung zum 1.1.2023, und lokale Besonderheiten in den Daten identifizieren.
  4. Eine Saisonbereinigung ist nicht zwingend erforderlich, da die Wavelet-Analyse Muster auf unterschiedlichen Zeitskalen erkennen kann.

Ein Wavelet wird typischerweise wie folgt dargestellt:

  • Auf der x-Achse wird die Zeit der Zeitreihe abgetragen.
  • Auf der y-Achse werden die kurz-, mittel- und langfristigen Frequenzen von oben nach unten aufgetragen.
  • Die Signalstärken werden dann farblich nach ihrer Intensität dargestellt, typischerweise mit einem kalt-warmen Farbschema, wobei blau (kalt) niedrige und rot (warm) hohe Intensitäten anzeigt. Würde die Intensität in einer dritten Dimension (z-Achse) dargestellt, wären die Schwingungswellen als solche erkennbar.
  • In der Regel wird ein Einflusskegel dargestellt (cone of influence). Außerhalb dieses Bereichs werden die Daten nicht oder nur mit Vorsicht betrachtet, da es sich um Randwerte handelt, deren Einfluss nicht so gut abgeschätzt werden kann.
  • Bei der Wavelet-Transformation wird für jede Frequenzebene (scale) ein kritischer Wert berechnet. Wenn dieser überschritten wird, ist die Signalstärke signifikant und wird durch eine durchgezogene Linie angezeigt.

Wenn das Bürgergeldgesetz als solches eine zunehmende Veränderung im Zugang zum SGB II bewirken würde, dann ist bei einer Wavelet-Transformation zu erwarten

  • dass die Signalstärke ab dem Zeitpunkt 193 (Januar 2023) gegenüber Dezember 2022 (Zeitpunkt 192) zunimmt,
  • dieser Anstieg bis zum letzten Datenpunkt anhält (da die Änderungen des Bürgergeldgesetzes noch wirksam sind) – horizontale Achse, und
  • zusätzlich nach unten geht, d.h. auf der vertikalen Achse vom Monat 2 (ganz oben) bis zum Monat 12 bis 13, was die Entwicklung nach einem Jahr zeigt,
  • und diese Werte signifikant (p=0.05) werden.

3. Darstellung und Interpretation der Analyseergebnisse

Eine der Stärken der Wavelet-Analyse ist ihre Fähigkeit, Signale sowohl im Zeit- als auch im Frequenzbereich darzustellen. Daher ist es üblich, die Ergebnisse grafisch darzustellen.

Die Wavelet-Koeffizienten werden als Funktion der Zeit und der Skala in einem Zeit-Skala-Diagramm dargestellt.

Die Farbskala auf der rechten y-Achse ist logarithmiert.

Wie visuell zu erkennen ist, fehlt eine signifikante Signaländerung oben rechts im Skalogramm.

Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass das Inkrafttreten des Bürgergeldgesetzes nicht zu einem erhöhten Zugang in die ELB geführt hat. Ab den Monaten 8 und 9 liegen die Werte außerhalb des Einflusskegels. Die Signalstärken ganz rechts, also zum Zeitpunkt 208, oszillieren zwischen blau und türkis bis etwa zum Monat 22 (Skala 22). Auch dies deutet nicht auf eine Veränderung durch das Bürgergeldgesetz hin.

Scalogram der Wavelet-Analyse: Zugänge (bereinigt) in das SGB II


Der Einfluss der Corona-Pandemie ist deutlich zu erkennen. Zwischen den Zeitpunkten 155 (November 2019) und 175 (Juli 2021) – also 20 Monate breit – nimmt die Intensität von Türkis über Gelb nach Orange zu. Dies zeigt sich sowohl in der kurzfristigen schmalen Skala als auch bis Monat 14, wo die Skala breiter ist. Die Region ist als signifikant gekennzeichnet (dicke Linie).

Die Corona-Pandemie wird in dieser Untersuchung noch berücksichtigt, da wesentliche, kritisierte Änderungen des Bürgergeldgesetzes bereits hier wirksam wurden. So wurde der Zugang zum SGB II ab März 2020 erleichtert durch

  • eine befristete Einschränkung der Vermögensprüfung,
  • eine befristete Anerkennung der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung und
  • einen weitergehenden Verzicht auf sanktionsbewehrte Melde- und Mitwirkungspflichten.

Dies wurde vor allem mit Blick auf Selbständige eingeführt (ausführlich dazu Selbständige in der Corona-Krise: Vorzugsbehandlung durch Bundesregierung?) Allein im April 2020 wechselten rund 33.000 Selbständige in den SGB II-Bezug, was rund 40 Prozent des Anstiegs in diesem Monat erklärt.

Das Bürgergeldgesetz hat diese Änderungen im SGB II während der Coronazeit im Wesentlichen übernommen und insofern keine gänzlich andere Situation geschaffen. Würde dieser erleichterte Zugang in der Coronazeit eine Rolle spielen, müsste die Signalstärke auch nach dem Zeitpunkt 175 erhalten bleiben. Tatsächlich nimmt sie von orange nach blau ab bzw. wird nicht mehr signifikant. Daraus lässt sich schließen, dass die Zugänge während der Corona-Periode hauptsächlich wegen der Pandemie und nicht wegen des vereinfachten Zugangs zugenommen haben und dass die „Erleichterungen“ danach weniger in Anspruch genommen wurden.

Das andere signifikante Feld oben rechts auf der Skala von 0 bis 5 und den Zeitpunkten 180 bis 190 setzt sich vor allem aus Flüchtlingen aus der Ukraine zusammen, die keine ukrainische Staatsangehörigkeit besitzen oder andere, die wegen des Ukraine-Kriegs auf Leistungen (Inflation, Energiekostenkrise, Lieferkettenprobleme) angewiesen waren.

4. Vergleich mit den Ursprungsdaten

Die Entwicklung der bereinigten ELB-Zugänge (ohne Vorleistungsempfänger*innen und Ukraine-Flüchtlinge ab Juni 2022) korrespondiert sehr gut mit den Krisen als Einflussfaktoren. In der Abbildung sind sie von links nach rechts wie folgt abgetragen: Große Krise (Finanzsektor), „Flüchtlingskrise“ 2014 ff, die sich im Rechtskreis erst mit Verzögerung auswirkte, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg. Insofern ist die gewählte Untersuchungsgröße angemessen.

Ganz rechts ist die Geltungsdauer des Bürgergeldgesetzes abgetragen. Hier ist ein leichter Anstieg gegenüber den Vormonaten zu erkennen. Dies sollte jedoch nicht vorschnell als Hinweis auf die Veränderung durch das Bürgergeldgesetz interpretiert werden.

Denn die Zeitreihe ist weder saisonbereinigt, noch sind Autokorrelationen oder die Überlagerung z.B. durch den Ukraine-Krieg ausgeschlossen.

Zu den saisonalen Effekten gehört z. B., dass in der Regel die Zugänge vom Dezember zum darauf folgenden Januar ansteigen. Dies hängt typischerweise mit der Beendigung von Arbeitsverhältnissen und der Erfahrung zusammen, dass im Winter weniger Neueinstellungen vorgenommen werden. Gleichzeitig sind die Zuwanderung (ohne Ukraine) und die Arbeitslosigkeit wieder etwas angestiegen. Und 2023 gilt inzwischen als Rezessionsjahr.

Es wird aber auch deutlich, dass die Veränderung von 2022 auf 2023 betragsmäßig nicht größer ist als die Schwankung innerhalb eines Jahres in der Zeitreihe. Und das Niveau der bereinigten Zugänge ist deutlich niedriger als zwischen 2007 und 2018.

Zugänge (bereinigt) in das SGB II

5. Schlussfolgerungen und Ausblick

Die vorliegende Studie untersuchte mittels einer Wavelet-Analyse, ob das zum 01.01.2023 in Kraft getretene Bürgergeldgesetz tatsächlich zu einem signifikanten Anstieg der Leistungsberechtigten im SGB II-System führte. Entgegen weitverbreiteter Behauptungen in Medien und Politik zeigen die Ergebnisse, dass das Bürgergeldgesetz mit hoher Wahrscheinlichkeit keine signifikante Veränderung in der Zahl der Leistungsberechtigten bewirkt hat.

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