Mindestlohn – Wirkungen und Mängel

Die Wirkungen und Mängel des Mindestlohns bzw. seiner Erhöhung auf 12 Euro pro Stunde analysiere ich in einem Beitrag für forum arbeit (forum arbeit 01/22). Der Aufsatz ist als pdf-Datei erhältlich. Download hier

Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn wurde zum 1.1.2015 erstmals eingeführt. Dies war nötig, sowohl aufgrund des sehr großen Niedriglohnsektors, der durch den Mindestlohn nicht kleiner wurde, als auch durch das Versagen der Tarifautonomie (schwache Gewerkschaften, Unternehmen ohne Tarifbindung). Die Bundesregierung plant eine einmalige Erhöhung des Mindestlohns auf 12 € brutto pro Stunde zum 1.10.2022 (Referentenentwurf vom 21.1.2022).

Wirkungen

Eine Erhöhung auf 12 € ist sicherlich eine Verbesserung für die davon betroffenen Beschäftigten. Wenn sonst alle Parameter gleich blieben, dann könnten von der Erhöhung rund 8,6 Mio. Beschäftigte profitieren, die 2021 unter 12 € verdienten (WSI Policy Brief Nr. 62, 11/2021).

Armut wird jedoch auch bei Beschäftigung mit 12 € Mindestlohn (working poor) nicht überwunden, existenzsichernd ist der Mindestlohn weitgehend nicht. Ist ein solcher Mindestlohn noch gerecht (vgl. auch § 315 BGB)? Nach der Europäischen Sozialcharta (Art. 4) gilt, „das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern“. Mit einem Mindestlohn von 12 € würde die Pfändungsfreigrenze allenfalls  bei einem Single-Haushalt überschritten werden. Der Bund geht davon aus, dass die Zahl von 111.000 vollzeitbeschäftigten Erwerbsaufstocker*innen im SGB II reduziert werden kann (nicht quantifiziert sind jene, die aufgrund des Anreizes eines höheren Mindestlohns Arbeit aufnehmen).

Das Förderinstrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§ 16i SGB II) berücksichtigt ebenfalls den Mindestlohn. Im Dezember 2019 wurden 31 Prozent solcher Arbeitsverträge mit dem Mindestlohn vergütet (Daten der BA für gemeinsame Einrichtungen). Die geplante Erhöhung (22 Prozent) bewirkt steigende Kosten für dieses Förderinstrument. Bei konstanten Förderquoten wächst der absolute Eigenanteil der Arbeitgeber. Dies macht das Instrument insbesondere für gemeinnützige Arbeitgeber weniger attraktiv. Vermutlich werden einige von ihnen keine Verlängerung von Arbeitsverträgen vornehmen oder Beschäftigte kündigen. Für Jobcenter steigt das Fördervolumen. Bei gleichbleibenden Budget für die Eingliederung in Arbeit nimmt der Anteil der zu bindenden Mittel zu, was zu einer Reduzierung bei anderen Instrumenten führen und regional entweder eine geringere Flexibilität der Planung von ungebundenen Eingliederungsmitteln zur Konsequenz haben kann oder eine Reduzierung der Zahl der geförderten Arbeitsverhältnisse.

Parallel zur einmaligen Erhöhung will die Bundesregierung die Entgeltgrenze für Minijobs („Hartz II“) erhöhen. Statt dieses Vertragsverhältnis abzuschaffen, wird die aktuelle Obergrenze von 450 € im Monat auf 520 € im Oktober 2022 und danach gleitend erhöht. Damit soll der bisherige Umfang von sozialversicherungsfreien Minijobs aufrecht und attraktiv erhalten werden.

Beibehaltung von Mängeln im Mindestlohngesetz

Auffällig ist die Beibehaltung von Mängeln im Mindestlohngesetz, die im Referentenentwurf beibehalten werden.

In der Begründung des Referentenentwurfs zum Mindestlohn wird wie im Koalitionsvertrag der Mythos wiederholt, dass es Anreizen für die Erwerbsaufnahme aufseiten der Erwerbspersonen bedarf.

„Gleichzeitig bewirkt die Erhöhung, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Regel finanziell bessergestellt werden als vergleichbare Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Auf diese Weise wird ein Anreiz zur Aufnahme von Erwerbstätigkeit gesetzt, ohne die sozialrechtliche Pflicht des Staates zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in Frage zu stellen.“ (Hervorhebung AH)

Die Behauptung, dass es Anreize der Arbeitslosen zur Erwerbstätigkeit braucht, blendet aus, dass es für die Arbeitslosen, wenn alle würden arbeiten wollen, gar nicht genügend offene Stellen gibt (September 2021: Arbeitslose: 1,9 Mio., gemeldete Stellen bei der BA: 0,6 Mio.; Lücke: 1,3 Mio.), und dass Diskriminierung aufgrund von ethnischer oder sozialer Herkunft oder Alter auf dem Arbeitsmarkt gleichfalls eine hemmende Rolle bei der Aufnahme von Beschäftigung spielt.

Mit dem Mindestlohngesetz wurde in der deutschen Arbeitsmarktpolitik vermutlich erstmals das Merkmal „langzeitarbeitslos“ zu einem Tatbestandsmerkmal mit Rechtsfolgenwirkung erklärt. Bis dahin hatte das Merkmal „langzeitarbeitslos“ ausschließlich statistische Bedeutung. Liegt Langzeitarbeitslosigkeit vor, erhält ein Beschäftigter die ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses keinen Mindestlohn (§ 22 Abs. 4 MiLoG). Und genau jenen, denen fehlende Anreize unterstellt werden, wird anfangs der Mindestlohn verwehrt. Weiter steht im Gesetz, dass diese Regelung evaluiert (§ 23 MiLoG) werden soll. Der vom Bund in Auftrag gegebene Forschungsbericht hat die vorgenannte Ausnahmeregelung nicht evaluiert (BMAS, Forschungsbericht 561: Der gesetzliche Mindestlohn und Arbeitnehmerschutz. Dezember 2020). Das IAB hat keine Effekte der Ausnahmeregelung festgestellt (Mindestlohn in Deutschland – Effekte der Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose, IAB-Forum vom 5.7.2017). Der Bundesrechnungshof hat in einem Prüfbericht die Ausnahme ebenfalls moniert mit der Aufforderung an den Bund, entweder die Regelung durch die Jobcenter zur Anwendung zu bringen, oder sie abzuschaffen. Im Referentenentwurf ist keine Aussage zur Ausnahmeregelung zu finden.

Unverändert bleibt auch die Regelung zur Bestimmung des Mindestlohnes:

„Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.“ (§9 Abs. 2 MiLoG)

Wenn wie in den letzten Jahren die Tarifentwicklung schwach ist, dann kann der Mindestlohn auch nur in kleinen Schritten erhöht werden.

Die massive Erhöhung von Energiepreisen in 2021/2022 zeigt, dass mit diesem Verfahren das Ziel des Mindestlohnes (angemessener Mindestschutz der Arbeitnehmer*innen) nicht erreicht wird.

Die Kontrollen zur Durchsetzung des Mindestlohngesetzes sind nicht optimal. Hierzu fehlen konkrete Verbesserungspläne.

Fazit für das Gesetzgebungsverfahren

Im Gesetzgebungsverfahren sollten noch geändert werden:

  • Der Mindestlohn sollte höher als 12 € angesetzt werden. Hinweise zur Orientierung bietet der Evaluationsbericht des BMAS. Der Bund ist mit der Setzung von indexierten Mindestlöhnen gefordert.
  • 22 (4) MiLoG, wonach Langzeitarbeitslose sechs Monate lang keinen Mindestlohn erhalten, ist zu streichen.
  • Die Bezugnahme der Begründung für die Erhöhung des Mindestlohns auf die Anreize für Arbeitslose sollte auch gestrichen werden. Es reicht der Grund, dass der Markt oder die Tarifautonomie versagt hat.
  • Dem Evaluationsberichtes nach ist die Stärkung der Tarifautonomie und -bindung effektiver. Dies und den Abbau von Diskriminierungen von Arbeitssuchenden auf dem Arbeitsmarkt sollte die Regierung beschleunigen. Bis dahin sollte von der Mindestlohnkommission von der Tarifentwicklung nach oben abgewichen werden müssen, wenn die Preisentwicklung entsprechend ist.
  • Die verbesserte Durchsetzung des Mindestlohnes sollte mitbeschlossen werden.

Weiterführende Darstellungen: www.andreas-hammer.eu; WSI-Mindestlohnarchiv: https://www.wsi.de/de/mindestloehne-in-deutschland-15302.htm

Veröffentlicht unter Arbeitsmarkt, SGB II, Soziale Teilhabe, Teilhabechancengesetz | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Mindestlohn – Wirkungen und Mängel

Wirkt die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen noch?

Als Instrument des sog. Teilhabechancengesetzes soll der § 16e SGB II seit 1.1.2019 die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen fördern (siehe auch hier und hier).

Im Januar 2022 betrug der Fallbestand 8.852 (vorläufige Zahl; Quelle der Zahlen: Statistik der Bundesagentur für Arbeit). Das entspricht etwas dem Niveau vom Dezember 2019, also einem Jahr nach Einführung. Die Zahl der Eintritte lag bei 257. Sie liegt so niedrig wie nur beim Start des Instrumentes Januar bis August 2019).

Seit September 2019 gehen die monatlichen Zugänge im Trend zurück (siehe auch hier). Diese Entwicklung setzt also bereits deutlich vor der Corona-Pandemie ein. Die niedrigen Eintrittszahlen in den letzten Monaten sind insoweit bedenklich, als in der Pandemie die Zahl und der Anteil der Langzeitarbeitslosen besonders stark gestiegen ist (s. Anteil der Langzeitarbeitslosen an Arbeitslosen hat 10-Jahres-Hoch überschritten). Hier besteht großer Förder- und Handlungsbedarf, bei dem das dafür geschaffene Instrument „Eingliederung von Langzeitarbeitslosen“ offensichtlich nicht wirkt oder nicht genutzt wird.

Seit Januar 2021 gehen außerdem die kontinuierlich Bestandszahlen zurück.

Quelle der Daten: Statistik der Bundesagentur für Arbeit

Insgesamt sind bislang rund 23.900 Personen über das Instrument gefördert worden. Andererseits sind rund 15.050 bereits wieder ausgeschieden, was deutlich mehr etwa zwei von drei Geförderten betrifft (63 Prozent).

Damit verbunden sind Teilnahmedauern von deutlich unter der Förderdauer von zwei Jahren. Der Jahresfortschrittswert November 2021 bezogen auf die Austritte mit abgeschlossener Teilnahmedauer liegt bei 568 Tagen (max. möglich 720; ohne Bayern). Die tatsächliche durchschnittliche Teilnahmedauer beträgt 252 Tage in Hessen, am anderen Ende steht das Saarland mit 667 Tagen (also mehr als doppelte als in Hessen). Diese regionale Bandbreite zeigt, dass die Pandemie alleine nicht der große Umfang von vorzeitigen Förderenden bewirkt (s. hier).

Der Änderungsbedarf bei der Ausgestaltung der Förderung ist offensichtlich. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wird vage von einer Weiterentwicklung gesprochen. Diese wird vermutlich erst 2023 gesetzlich geregelt. Bis dahin wäre es möglich, den Jobcentern untergesetzlich einen größeren örtlichen Ermessensspielraum zu geben.

Veröffentlicht unter Arbeitsmarkt, SGB II, Soziale Teilhabe, Teilhabechancengesetz | Verschlagwortet mit , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Wirkt die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen noch?

Haushaltsentwurf für das SGB II

Der Haushaltsentwurf für das SGB II ist veröffentlicht und im Gesetzgebungsverfahren.

Der Mittelansatz ist 2022 wie im Vorjahr (unter Berücksichtigung einer angenommenen niedrigeren Zahl von Leistungsberechtigten).

Demnach ist davon auszugehen, dass der Bund seine im Koalitionsvertrag angekündigten Instrumentenneuerungen und -veränderungen entweder kostenneutral oder noch nicht für 2022 vorsieht. Auch erwartet die Regierung keine weitere Zunahme an Leistungsberechtigten im SGB II in Folge der SARS-CoV-2-Pandemie.

Veröffentlicht unter Arbeitsmarkt, SGB II | Verschlagwortet mit | Kommentare deaktiviert für Haushaltsentwurf für das SGB II

Teilhabe am Arbeitsmarkt – nur für 40.000?

„Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§ 16i SGB II) soll als Instrument des sog. Teilhabechancengesetzes seit 1.1.2019 die Teilhabe von Langzeitleistungsbeziehenden fördern (siehe auch hier). Dabei geht es um Personen, die in der Regel innerhalb der letzten sieben Jahre sechs Jahre Arbeitslosengeld II bezogen haben, unabhängig davon, ob sie arbeitslos waren oder nicht.

Die Nutzung des Instruments stagniert seit einem Jahr (siehe auch Teilhabe am Arbeitsmarkt am Maximum?). Sowohl für die Eintritte (bereits seit 5/2019, also vor der Pandemie) als auch für den Bestand (seit 1/2021) ist ein Rückgang zu beobachten (siehe auch Teilhabe am Arbeitsmarkt im Sinkflug 2021?).

Erleichterungen im Zugang hätten untergesetzlich erfolgen können. So könnte der Bund beispielsweise die Ausübung einer längeren und geringen Minijob-Tätigkeit als unschädlich für die Förderung nach § 16i SGB II einräumen. Da solche Anpassungen nicht vorgenommen wurden, ist davon auszugehen, dass das erreichte Volumen das politisch gewünschte Maß erreicht hat.

120.000 Förderfälle sind wohl die Obergrenze für öffentlich geförderte Beschäftigung (§§ 16d, 16e, 16i, Restabwicklung BEZ) in den letzten sechs Jahren, die im SGB II realisiert wird (siehe hier). Dieser Deckel scheint auch weiter gelten. Zum Vergleich: 2010 und früher gab es allein 300.000 Arbeitsgelegenheiten nach § 16d SGB II.

Das Recht auf Teilhabe – wie es auch gesetzlich abgesichert ist – wird somit nicht dauerhaft und nur begrenzt eingelöst. Eine angekündigte Entfristung des § 16i SGB II – Teilhabe am Arbeitsmarkt – wird selbst nicht ausreichen, um den Bestand zu halten oder zu erhöhen. Das Instrument sollte geändert werden und der Bund mehr Mittel als bisher dafür bereitstellen.

Veröffentlicht unter Arbeitsgelegenheit, Arbeitsmarkt, SGB II, Soziale Teilhabe, Teilhabechancengesetz | Verschlagwortet mit , , , | 2 Kommentare

SodEG soll verlängert werden

Der Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP für ein Gesetz zur Verlängerung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes und weiterer Regelungen vom 10.3.2022 sieht Bedarf für eine Verlängerung. Die Verlängerung ist vorsorglich, da Schutzmaßnahmen zum 19.3.2022 auslaufen würden. Sie ist bis maximal bis zum 23.9.2022 möglich.

Auch durch die verbliebenen möglichen Schutzmaßnahmen, ist es weiterhin möglich, dass die Angebote der sozialen Dienstleister fortlaufend oder erneut, insbesondere durch Abstandsgebote und Hygienekonzepte, beeinträchtigt werden. Daher ist es erforderlich, die Geltungsdauer des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes (SodEG), die ebenfalls bis zum Ablauf des 19. März 2022 begrenzt ist, zum Schutz der sozialen Infrastruktur vorsorglich zu verlängern.
Sollten die Länder keine die sozialen Dienstleister beeinträchtigenden Schutz maßnahmen erlassen, würde die durch dieses Gesetz vorgesehene Verlängerung des SodEG nicht greifen, denn die Voraussetzung einer Beeinträchtigung durch entsprechende Maßnahmen des IfSG wäre dann nicht gegeben.

Quelle: Gesetzesentwurf; Hervorhebung AH

Durch die vorsorgliche Verlängerung des Sicherstellungsauftrags nach dem
SodEG bis zum 30. Juni 2022 und eine Verordnungsermächtigung zur Verlängerung bis zum 23. September 2022 wird sichergestellt, dass die soziale Infrastruktur erhalten bleibt und soziale Dienstleistungen auch nach dem Ende der erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) noch erbracht werden können.

Quelle: Gesetzesentwurf; Hervorhebung AH
Veröffentlicht unter Arbeitsmarkt, SGB II, Soziale Teilhabe | Verschlagwortet mit , , | Kommentare deaktiviert für SodEG soll verlängert werden

Müssen Menschen in Deutschland eine Mahlzeit ausfallen lassen, weil das Geld für Essen nicht ausreicht?

Gourmet Seafood (Unsplash)

Soziale Ungleichheit ist ein gesellschaftliches Dauerthema, welches unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet wird. Unter den verschiedenen Aspekten wird nachfolgend lediglich ein Aspekt hervorgehoben: müssen Personen eine Mahlzeit ausfallen lassen, weil das Geld für Essen nicht ausreicht?

Für eine Auswertung* wurden Daten des International Social Survey Programme herangezogen. Dies ist ein länderübergreifendes, fortlaufendes Umfrageprogramm, das jährlich Erhebungen zu Themen durchführt, die für die Sozialwissenschaften wichtig sind. Die Studie 2019 konzentriert sich auf Fragen zur Sozialen Ungleichheit: An der Studie teilgenommen haben 1325 Personen im Alter von 18 Jahren und älter. Auf die Frage haben 1285 geantwortet (gewichtet). Die absoluten Zahlen sind zur Korrektur der Ausfälle durch Anpassung der Strukturen der Stichprobe an die Strukturen der Grundgesamtheit gewichtet. Die Antworten wurden in Deutschland im Herbst 2019 erfasst.

Die Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.

Die Frage lautete:

Wie oft lassen Sie oder andere Mitglieder Ihres Haushalts eine Mahlzeit ausfallen, weil das Geld für Essen nicht ausreicht? Bitte nur EIN Kästchen ankreuzen!
Nie
Weniger als einmal im Monat
Einmal im Monat
Mehrmals im Monat
Einmal in der Woche
Mehrmals in der Woche
Jeden Tag
Kann ich nicht sagen

Für die Auswertung wurden zwei Gruppen gebildet: eine, bei denen nie eine Mahlzeit ausfällt, und eine zweite, bei denen dies vorkommt, wie häufig auch immer.

Insgesamt lassen 93,2 % nie eine Mahlzeit ausfallen, bei 6,8 % kommt dies vor. Die zweite Gruppe entspricht einem Umfang in der Bevölkerung in 2019 von hochgerechnet rund 4,7 Mio. Betroffenen im Alter von über 18 Jahren.

Besonders betroffene Gruppen sind dauerhaft kranke oder erwerbsunfähige Personen, bei denen mehr als die Hälfte (56,4 %) auf eine Mahlzeit im Monat verzichten muss, weil das Geld für das Essen nicht ausreicht.

Arbeitslose und Arbeitsuchende (ILO-Konzept) sind gleichfalls zu einem großen Anteil davon betroffen: mehr als jeder Vierte (27,2 %).

Aber auch Erwerbstätige sind nicht vor diesem Problem geschützt. Bei immerhin 5 % fällt zumindest eine Mahlzeit im Monat aus.

Diejenigen, die bei der letzten Bundestagswahl (2018) gewählt haben, wurden gefragt, wem sie die Zweitstimme gegeben haben. Demnach haben vor allem Wähler*innen von „Die Partei“ (22,6 %) und der AfD (8,1 %) eine Mahlzeit ausfallen lassen, weil ihnen das Geld nicht gereicht hat. Wähler*innen von Bündnis 90/Die Grünen (3,9 %) und von CDU/CSU (4,7 %) waren am geringsten betroffen.

Fazit

Über 4 Millionen sind trotz Sozialleistungen und Tafeln davon betroffen, aus Geldmangel auf eine Mahlzeit verzichten zu müssen. Dieser Umfang scheint auf eine große, finanzielle und möglicherweise strukturelle Ungleichheit hinzudeuten (bei der in 2022 zu beobachtenden Inflation ist der Umfang wohl noch höher). Eine Erhöhung des Arbeitslosengeld II oder des Mindestlohns wird hier eine Verbesserung bewirken, allerdings wäre das allenfalls eine Teillösung. Erwerbsunfähige, Rentner*innen oder Auszubildende brauchen weiterführende Verbesserungen, um regelmäßige Mahlzeiten zu ermöglichen und Gleichheit zu erhöhen.

*Alle Berechnungen: Andreas Hammer; Quelle: International Social Survey Programme 2019 Social Inequality

Veröffentlicht unter Arbeitsmarkt, Gesundheit, SGB II, Soziale Teilhabe | Verschlagwortet mit , , , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Müssen Menschen in Deutschland eine Mahlzeit ausfallen lassen, weil das Geld für Essen nicht ausreicht?

Mehr Respekt für Frauen

RESPECT Bus manchester

Gedenktage wie der Internationale Frauentag bringen immer wieder Themen in den Blick, die sonst nur nachrangig Aufmerksamkeit finden (siehe auch hier). Ein solches Thema stellt die Frage dar, ob Frauen normalerweise genauso mit Respekt behandelt wie andere Menschen werden.

Hinweise dazu können aus einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage zu Diskriminierung ((Strukturelle) Diskriminierung, Mai 2019. Eine Studie von Kantar, Public Division im Auftrag des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (BPA)) gewonnen werden. Aus diesen Datensätzen* lässt sich das Ausmaß von wahrgenommenen Respekt gegenüber Frauen genauer bestimmen.

An der Befragung haben 1.060 Personen im Alter von über 18 Jahren teilgenommen. Die absoluten Zahlen sind zur Korrektur der Ausfälle durch Anpassung der Strukturen der Stichprobe an die Strukturen der Grundgesamtheit gewichtet. Folgende statistisch signifikanten Ergebnisse lassen sich ausweisen:

  • Zwei von drei Befragten (65,8 %; Trifft voll und ganz zu/ Trifft eher zu) sind der Meinung, dass Frauen normalerweise genauso mit Respekt behandelt wie andere Menschen werden.
  • Haben die Befragten eine eigene Diskriminierungserfahrung oder eine Diskriminierungserfahrung bezogen auf ihr Umfeld oder ihnen Unbekannte, dann sinken die Zustimmungswerte deutlich ab, jeweils auf unter 55 Prozent. Personen ohne Diskriminierungserfahrung sind zu über 70 Prozent der Meinung, dass Frauen genauso respektvoll behandelt werden wie andere. Menschen ohne Diskriminierungserfahrung sehen die Lage deutlich positiver als von Diskriminierung Betroffene und unterschätzen somit den Handlungsbedarf.
  • Unabhängig von der Diskriminierungserfahrung schätzen Frauen die Situation deutlich schlechter als Männer ein: 59 Prozent finden, dass Frauen genauso respektvoll behandelt werden wie andere, bei den Männern sind es fast 73 Prozent (+14 %). Bei Frauen mit eigener Diskriminierungserfahrung liegt der Wert bei rund 39 %.

Merkmale wie Partnerschaft (ja/nein) und Migrationshintergrund sind nicht signifikant.

Ein Schritt im Alltag wäre demnach mehr Respekt im Umgang mit Frauen. Dazu braucht es wohl auch mehr gute Vorbilder.

Weiterführende Literatur: Richard Sennet: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin Verlag 2002
*GESIS Datenarchiv, Köln. ZA6735 Datenfile Version 1.0.0, https://doi.org/10.4232/1.13402 
Veröffentlicht unter Arbeitsmarkt | Verschlagwortet mit , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Mehr Respekt für Frauen

Sanktionsmoratorium für SGB II auf dem Weg

Das von der Ampel-Regierung angekündigte Sanktionsmoratorium für das SGB II ist auf dem Weg in das Gesetzgebungsverfahren. War aus dem Koalitionsvertrag nicht eindeutig herauszulesen, wie die Formulierung dort zu verstehen ist, so schafft nun die Regelung im Entwurf Klarheit: die §§ 31a (Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen) und b (Beginn und Dauer der Minderung) sowie der § 32 SGB II (Meldeversäumnisse) werden ausgesetzt, und zwar bis zum 31.12.2022. Die Gesetzesänderung soll unmittelbar nach Beschluss in Kraft treten. In dieser Zeit wird als keine Sanktion vollzogen.

Der Referentenentwurf vom 28.2.2022 macht aber auch klar, dass die Zuweisung in Maßnahmen weiterhin mit Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen erfolgt, und eine Sanktion nach dem Moratorium vollzogen werden kann. Genau genommen wird also hier nur der Vollzug der Sanktion ausgesetzt und nicht die Sanktion selbst.

Veröffentlicht unter SGB II | Verschlagwortet mit , | Kommentare deaktiviert für Sanktionsmoratorium für SGB II auf dem Weg

Menschen im jungen und mittleren Alter besonders von Einsamkeit betroffen

Depressed man watercolor

In vielen westlichen Industrieländern hat eine öffentliche Diskussion zum Thema Einsamkeit im Alter Fahrt aufgenommen. Nachdem 2018 in Großbritannien ein Regierungsposten zur Bekämpfung der Einsamkeit eingerichtet wurde, sind auch in deutschen Verwaltungen Stabsstellen oder Förderprogramme (z. B. „Stärkung der Teilhabe älterer Menschen – gegen Einsamkeit und soziale Isolation“ des Bundes) eingerichtet worden. Zuvor war Einsamkeit im 1. und 2. Weltkrieg besonders häufig Thema.

Einsamkeit kann als eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen definiert werden (Maike Luhmann).

Einsamkeit war Thema einer Studie (Rente und Alter – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, Januar 2020, Forschungsgruppe Wahlen Telefonfeld GmbH im Auftrag des Bundes), die sich auf Rente und Alter bezieht. Unter den 1.075 Befragten ab 18 Jahren in der Bevölkerung Deutschlands waren 630 Rentnerinnen und Rentner (zum Thema Ältere und Wohnen bzw. Ältere und Einsamkeit siehe). Diese Daten* wurden ausgewertet (alle Berechnungen: Andreas Hammer) und entsprechend der allgemeinen Bevölkerungsstruktur gewichtet. In der Umfrage wurde Einsamkeit mit einer einzigen Frage gemessen („Wie ist das mit dem Thema Einsamkeit: Fühlen Sie sich …- häufig einsam, – ab und zu, – selten oder – nie?“). Dies ist durchaus üblich. Die Werte sind bei dieser Messart möglicherweise aufgrund sozial erwünschter Antworten unterschätzt. Die Daten wurden unmittelbar vor der SARS-CoV-2-Pandemie erhoben, sodass die Werte von Einsamkeit seitdem noch gestiegen sein werden.

Zunächst einmal beträgt in der Stichprobe der Anteil der einsamen Menschen 14,6 Prozent. Hochgerechnet auf die Bevölkerung im gleichen Alter wären rund 9,7 Mio. Menschen von Einsamkeit häufig oder ab und zu betroffen.

Entgegen populärer Annahmen, auch denen des deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/aeltere-menschen/aktiv-im-alter/einsamkeit-im-alter), ist es nicht so, dass ältere Menschen besonders häufig von Einsamkeit betroffen sind. Dies zeigen die Umfragedaten.

Die Altersangaben in den Datensätzen wurden für die folgende Auswertung umgruppiert, sodass immer 10 Jahrgänge zusammengefasst sind (Ausnahme: die jüngste Altersgruppe umfasst zusätzlich die 18- und 19-Jährigen; Altersgruppe 1 = 18 bis 29 Jahre, 2 = 30 bis 39 Jahre usw.).

Nicht einsame Personen

Diejenigen, die sich nicht einsam (zusammengefasst selten und nie) fühlen, sind in ihrem Alter normalverteilt. Der Median der Altersgruppe liegt bei 40 bis 49 Jahren.

Einsame Personen

Bei denjenigen, die sich einsam fühlen (zusammengefasst häufig und ab und zu), gibt es eine andere Verteilung. So gibt es zwei erhöhte Werte bei den bis 29-Jährigen und bei den 50 bis 59-Jährigen. Ansonsten sinken die Anteile der Einsamen mit steigendem Alter. Der Median der Altersgruppe liegt bei 40 bis 49 Jahren. Allerdings: Einsamkeit ist in allen Altersklassen vertreten.

Die erste Risikogruppe der jungen Menschen ist vermutlich deshalb stärker von Einsamkeit betroffen oder bedroht, da sie für ein Studium oder eine Erwerbstätigkeit den Wohnort wechselt. Diese Erklärung wird dadurch bestärkt, wenn man die Daten nach dem Ausbildungsstatus (in Ausbildung/Studium ja/nein) auswertet. Hier fühlen sich diejenigen in Ausbildung besonders einsam.

Für die zweite Risikogruppe der 50- bis 59-Jährigen ändert sich häufig die Haushaltssituation: die eigenen Kinder sind ausgezogen oder Partnerschaften ändern sich. Diese Veränderung beginnt schon in der 2. Hälfte der 40er-Jahre (Anteil der Einsamen 40-44 Jahre: 5,3 %, Anteil der Einsamen 45-49 Jahre: 6,1 %). Auch Singles, Ledige, Geschiedene und Verwitwete fühlen sich einsamer.

Besondere Aufmerksamkeit sollte deshalb auf diese beiden Gruppen gerichtet werden.

Die Älteren über 70 Jahre haben einen eher geringen Anteil an den Einsamen.

Weitere Merkmale, die mit höheren Anteilen bei Einsamkeit verbunden sind, sind eine größere Unzufriedenheit mit dem Leben allgemein, mit der Wohnsituation und dem Gesundheitszustand. Die Größe des Wohnortes spielt übrigens keine signifikante Rolle.

Strategien und Maßnahmen zur Reduktion von Einsamkeitsgefühlen

Sollte Einsamkeit zu sozialer Isolation oder gesundheitlichen Belastungen führen, besteht Handlungsbedarf. Entsprechende Strategien und Maßnahmen zur Reduktion von Einsamkeitsgefühlen könnten nach den beiden verschiedenen Risikogruppen differenziert werden. Sie sollten sich nicht alleine an der persönlichen Situation richten (ein Auslöser wie Verwitwung lässt sich nicht rückgängig machen, Auszug der Kinder), sondern auch die Struktur im Umfeld in den Blick nehmen (Schaffung von Gelegenheiten für soziale Interaktion, Wohnformen, siehe).

Dabei sollte berücksichtigt werden, dass sich der Anteil der Einsamen, die mehr Kontakt zu anderen Menschen suchen etwa genauso groß ist wie der, die nicht mehr Kontakt suchen. Für die Kontakt-suchenden Einsamen wären strukturelle Angebote wohl geeigneter. Einsame, die nicht mehr Kontakt suchen, können resigniert haben auf der Suche nach Kontakt (sie sind auch weniger zufrieden mit ihrem Leben) oder keinen Veränderungswunsch haben. Hier könnte der Einsatz sozialer Medien ein geeigneter Ansatz sein.

  • * GESIS Datenarchiv, Köln. ZA6747 Datenfile Version 1.0.0, https://doi.org/10.4232/1.13579
Veröffentlicht unter Alleinerziehende, Gesundheit, Soziale Teilhabe | Verschlagwortet mit , , , , | Kommentare deaktiviert für Menschen im jungen und mittleren Alter besonders von Einsamkeit betroffen

Bürgergeld zum 1.1.2023 angekündigt

Da im März 2022 der sog. vereinfachte Zugang in das SGB II im Rahmen des Sozialschutz-Paketes regulär endet, besteht Bedarf für eine Anschlussregelung, solang die Pandemie nicht überwunden ist. Im entsprechenden Entwurf für eine Verordnung ist eine Verlängerung bis zum 31.12.2022 vorgesehen. In der Verordnung wird angekündigt:

Die die Bundesregierung tragenden Parteien haben in dem Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode unter anderem die Einführung eines Bürgergeldes vereinbart. Das Bürgergeld soll in den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges ohne Berücksichtigung des Vermögens und unter Anerkennung der Angemessenheit der Wohnung erbracht werden. Dieser Ansatz greift die zentralen Regelungen des vereinfachten Verfahrens für den Zugang zu den Grundsicherungssystemen auf. Das Bürgergeld soll voraussichtlich zum 1. Januar 2023 eingeführt werden. Auch im Hinblick darauf ist es angezeigt, die Regelungen für das vereinfachte Verfahren bis zum 31. Dezember 2022 zu verlängern, um insoweit einen nahtlosen Anschluss zu ermöglichen.

Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: 2. Vereinfachter-Zugang-Verlängerungsverordnung vom 4.2.2022

Sollte dieser Zeitplan eingehalten werden, ist bis zu diesem Datum mit keinen größeren Veränderungen als die im Sozialschutzpaket bereits geregelten Punkte (Vermögensprüfung, Angemessenheit der Unterkunftskosten) sowie die aus dem Entwurf zum 11. Änderungsgesetz angedachten Änderungen (Teilhabevereinbarung, Bagatellgrenze usw.; siehe hier) zu rechnen.

Veröffentlicht unter SGB II | Verschlagwortet mit , , | Ein Kommentar