Erwartungen an die Politik von Betroffenen mit einer erlebten Diskriminierung aufgrund Behinderung

Fortsetzung von Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung: Menschen mit Behinderung brauchen mehr Anti-Diskriminierung (s. hier)

Betroffene wurden nach ihren Erwartungen an die Politik gefragt. Die möglichen Antworten (Stimme voll und ganz zu, Stimme eher zu, Stimme eher nicht zu, Stimme überhaupt nicht zu, Weiß nicht) wurden dichotomisiert.

Zu den größten Erwartungen gehören mehr Aufmerksamkeit für das Thema Diskriminierung in Bildungseinrichtungen (94,2 %) bzw. mehr Information über das Recht auf Gleichbehandlung (85,7 %). Die rechtliche Lage der Opfer von Diskriminierung sollte außerdem verbessert werden (89,4 %) und die vorhandenen Gesetze besser durchgesetzt werden (88,6 %).

Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sind die meisten zufrieden und sehen auch keinen Verbesserungsbedarf.

Erwartungen von Betroffenen mit einer erlebten Diskriminierung aufgrund Behinderung oder chronischen Erkrankung werden im Koalitionsvertrag der Ampel-Bundesregierung nicht berücksichtigt.
Zustimmende Erwartung von Betroffenen mit einer erlebten Diskriminierung aufgrund Behinderung oder chronischen Erkrankung

Von diesen Erwartungen wird im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung keine aufgegriffen.

Lediglich bei zwei Aussagen gibt es Bezüge zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und chronisch Kranken:

  1. Bürgernähe und eine transparente Fehlerkultur werden wir stärken, indem wir die Aus- und Fortbildung bei der Polizei weiterentwickeln und noch intensiver die Grundsätze der freiheitlich demokratischen Grundordnung, insbesondere der Grund- und Menschenrechte, vermitteln. Damit beugen wir auch der Entstehung und der Verfestigung von Vorurteilen, Diskriminierungen und radikalen Einstellungen vor. (siehe zur Polizei)
  2. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) werden wir evaluieren, Schutzlücken schließen, den Rechtsschutz verbessern und den Anwendungsbereich ausweiten.

Vielleicht sollte die PolitikerInnen sich nochmals mit den Erwartungen von Betroffenen beschäftigen. Zumindest der Vorschlag „Man sollte mehr Aufmerksamkeit für das Thema Diskriminierung in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen schaffen.“ sollte vermutlich nicht zu teuer kommen.

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Vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie

Mit den Sozialschutzpaketen wollte die Bundesregierung sicherstellen, dass Erwerbstätige, insbesondere Selbständige (s. hier), auch während COVID-19-Pandemie sozial abgesichert sind. Dazu wurde unter anderem das SGB II dahingehend geändert, dass neue Antragsstellende ein vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II) in Anspruch nehmen können. Damit verbunden ist eine weniger tiefe Vermögensprüfung und eine vollständige Anerkennung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft für die Dauer von sechs Monaten (§ 67 SGB II). Kritiker befürchteten, dass damit unnötige Ausgaben aus Steuermitteln anfallen.

Wie haben sich die Kosten der Unterkunft entwickelt?

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Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung: Menschen mit Behinderung brauchen mehr Anti-Diskriminierung

Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember jedes Jahres ist ein Gedenk- und Aktionstag der Vereinten Nationen. Er soll der Öffentlichkeit die Situation von Menschen mit Behinderung bewusst machen und ihre Inklusion fördern.

Zur Inklusion gehört auch die Teilnahme am Erwerbsleben (Artikel 27 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen) und die Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Damit ist es allerdings in Deutschland trotz guter Wirtschaftssituation in den letzten Jahren nicht gut bestellt (siehe hier).

Weiter ist die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung Thema. Dazu gab es 2019 eine repräsentative Bevölkerungsumfrage ((Strukturelle) Diskriminierung, Mai 2019. Eine Studie von Kantar, Public Division im Auftrag des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (BPA)). Aus diesen Datensätzen* lässt sich das Ausmaß von Diskriminierung von Menschen mit Behinderung genauer bestimmen. An der Befragung haben 1.060 Personen im Alter von über 18 Jahren teilgenommen. Die folgenden Zahlen sind zur Korrektur der Ausfälle durch Anpassung der Strukturen der Stichprobe an die Strukturen der Grundgesamtheit gewichtet.

Von den Befragten erklärten 8,7 %, dass sie persönlich eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung oder chronischen Krankheit in den letzten drei Jahren erlebt haben. Unter denen, die Frage überhaupt beantwortet haben, waren es 43,1 %. Unter den verschiedenen Diskriminierungsmerkmalen (Geschlecht, Alter u.a.) war Behinderung das häufigste.

Im Folgenden werden Ergebnisse dieser Befragten genauer betrachtet.

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Sozialdienstleister-Einsatz-Gesetz erneut verlängert

Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat haben am 18. bzw. 19.11.2021 die Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze beschlossen. Darin sind enthalten:

Der vereinfachte Zugang zum SGB II sowie die erleichterte Vermögensprüfung im Kinderzuschlag werden bis zum 31. März 2022 verlängert.

Verlängert wird die Ausnahmeregelung zur Verdienstgrenze von Kreativen und Kulturschaffenden.

Das Sozialdienstleister-Einsatz-Gesetz (SodEG) wird bis zum 19. März 2022 verlängert. Damit besteht die Grundlage weiter, sozialen Dienstleistern beispielsweise im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, der Rehabilitation oder der Behindertenhilfe während der Krise weitere Leistungen zu gewähren.

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Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen

Die UN-Generalversammlung hat 1999 eine Resolution verabschiedet, nach der der 25. November zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen festgelegt wurde. Der Gedenktag soll das Thema in die Öffentlichkeit bringen. Dem gingen bereits seit den 1980ern Veranstaltungen von Menschenrechtsorganisationen am gleichen Tag zum gleichen Thema voraus.

In der Evaluation einer Maßnahme zur Integration von Alleinerziehenden habe ich nach erlebten kritischen Ereignissen gefragt. Rund ein Drittel der Befragten äußerten körperliche Gewalterfahrung. Ob dies verallgemeinerbar ist, ist schwierig zu beweisen. Amtliche Statistiken zum Thema Gewalt an Frauen existieren nicht. Die Daten (mit Dunkelziffern) kommen häufig von Einrichtungen wie sog. Frauenhäuser oder Beratungsstellen. Ergänzend gab es 2019 eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zu Diskriminierung ((Strukturelle) Diskriminierung, Mai 2019. Eine Studie von Kantar, Public Division im Auftrag des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (BPA)). Aus diesen Datensätzen* lässt sich das Ausmaß von Gewalt an Frauen genauer bestimmen.

An der Befragung haben 1.060 Personen im Alter von über 18 Jahren teilgenommen (Die absoluten Zahlen sind zur Korrektur der Ausfälle durch Anpassung der Strukturen der Stichprobe an die Strukturen der Grundgesamtheit gewichtet.).

Folgende Ergebnisse lassen sich ausweisen:

  1. Die Frage „Ich wurde körperlich bedroht“ (in den letzten drei Jahren) wurde von 177 Personen beantwortet. Von diesen haben 25,8 % diese Aussage bejaht.
  2. Ich wurde körperlich angegriffen“ (in den letzten drei Jahren) gaben 11,5 % an.
  3. Der Aussage „Ich habe körperliche sexualisierte Übergriffe erlebt (z.B. ungewollte Berührungen)“ (in den letzten drei Jahren) haben 22,8 % zugestimmt.
  4. Einer von diesen drei Aussagen haben insgesamt 38,8 % getroffen. Demnach waren zwei von fünf Befragten von körperlichen Übergriffen bedroht. Hinzu kommt noch die Erfahrung, körperliche Übergriffe auf andere erlebt zu haben.
  5. Übergriffe auf Frauen waren häufiger als auf Männer (die Zahl der Diversen war für die Auswertung zu gering). Besonders auffällig ist dabei der Unterschied bei der Frage nach den körperlich sexualisierten Übergriffen: sie erlebten 27 % der Männer und 73 % der Frauen.

Hinzu kommen noch andere Gewaltformen – neben körperlichen Übergriffen (siehe hier).

Wenn man den Anteil der Frauen, die in den letzten drei Jahren körperlich bedroht waren, auf die Bevölkerung Deutschlands im Alter von 18 bis 85 Jahren hochrechnet, dann waren 1,5 Mio. Frauen von einer körperlichen Bedrohung betroffen.

Die trotz Antidiskriminierungsgesetz verbreitete Gewalt an Frauen zeigt, dass insbesondere die Bundesregierung mehr und bessere Strategien über das dagegen auf den Weg bringen muss.

(Ergänzt am 28.11.2021)

Bundesweites Hilfetelefon Gewalt an Frauen:

Kostenlose Telefonhotline für Betroffene 08000 116 016

Die Nummer ist kostenlos und bundesweit rund um die Uhr erreichbar. Sie kann auch ohne Handyguthaben genutzt werden. Mehr Informationen unter: www.hilfetelefon.de

  • *GESIS Datenarchiv, Köln. ZA6735 Datenfile Version 1.0.0, https://doi.org/10.4232/1.13402
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Koalitionsvertrag stärkt Bundesagentur für Arbeit

Der am 24.11.2021 vorgestellte Koalitionsvertrag enthält zahlreiche Bezugspunkte zum SGB II. Auffällig ist unter anderem die angedachte Schwächung der Jobcenter und Stärkung der Bundesagentur für Arbeit. Rein quantitativ werden die Jobcenter weniger bedeutend, wenn die Idee vom Bund umgesetzt wird, dass die Arbeitslosengeld II-AufstockerInnen in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung künftig von der Bundesagentur für Arbeit betreut werden (die Leistungsgewährung bleibt beim Jobcenter). Die genannte Begründung ist nicht sehr belastbar.

JahrELB in sv-pflichtiger
Beschäftigung (Bestand, Jahresdurchschnitt)
Anteil an ELB
2019
533.001
13,7 %
2020494.62212,7 %
Daten: Statistik der Bundesagentur für Arbeit

Die Jobcenter betreuen dann vermittlerisch unter Umständen nicht mehr die ganze Bedarfsgemeinschaft, sondern nur noch einen Teil (analog zu den Arbeitslosengeld-AufstockerInnen im SGB II-Leistungsbezug).

Dieser Vorschlag passt in die Kette an vorangegangenen Gesetzesänderungen mit gleicher Zielrichtung. Der Bund stärkt damit seine Einflusssphäre und Steuerungsmöglichkeiten. Die zugelassenen kommunalen Träger werden das deutlicher zu spüren bekommen.

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Mindestlohn und Auswirkung auf Teilhabe am Arbeitsmarkt

Die Parteien SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP planen die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde brutto. Das geht aus dem Sondierungspapier hervor. Seit dem 1. Juli 2021 liegt er bei 9,60 Euro brutto. Die geplante Erhöhung hat Konsequenzen für das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§ 16 i SGB II), das den Mindestlohn oder höher zur Voraussetzung für die Förderung von Langzeitleistungsbeziehenden hat.

Im Dezember 2019 wurden 31,4 Prozent der Arbeitsverträge nach § 16 i SGB II mit dem bundeseinheitlichen Mindestlohn vergütet (Daten der Jobcenter als gemeinsame Einrichtung, ohne die der zugelassenen kommunalen Träger).

Im Juli 2021 waren 42.564 Förderfälle nach §16 i SGB II im Bestand (siehe hier).

Angenommen der Anteil der nach Mindestlohn Bezahlten von 2019 wäre noch gültig und die Beschäftigten hätten durchschnittlich eine Wochenarbeitszeit, dann ergeben sich für die Arbeitgeber folgende Mehrkosten:

Bisher Mindestlohn 9,60 Euro: 637,4 Mio. Euro pro Jahr

Geplant Mindestlohn 12,00 Euro: 796,8 Mio. Euro pro Jahr

+ 159,4 Mio. Euro pro Jahr

Für die Arbeitgeber, die eine 100 %-Förderung bekommen (in den ersten beiden Förderjahren), ändert sich nichts. Lediglich die Jobcenter müssen mehr Fördermittel binden können, was regional unterschiedlich ausfällt. Im dritten bis fünften Förderjahr ist der Zuschuss der Jobcenter an die Arbeitgeber degressiv. Hier erhöhen sich die Kosten für die Arbeitgeber. Dies wird für gemeinnützige Arbeitgeber (siehe hier) wie bisher ein Problem darstellen. Vermutlich werden einige Arbeitgeber keine Verlängerung von Arbeitsverträgen vornehmen oder sogar Beschäftigte kündigen.

Da eine Erhöhung des Mindestlohnes nötig ist, sollten die Förderbedingungen von „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ zumindest für gemeinnützige Arbeitgeber gleichzeitig verbessert werden. Sonst würden die Teilhabechancen der Langzeitleistungsbeziehenden geschwächt werden. Bei dieser Gelegenheit sollte auch die Versicherungspflicht bei der Arbeitslosenversicherung (siehe hier) eingeführt werden.

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Erfahrungen mit Behörden während der Corona-Krise 2021

Im Rahmen der repräsentativen Bevölkerungsumfrage „Vertrauen in Staat und Gesellschaft während der Corona-Krise“ wurden von der Forschungsgruppe Wahlen Telefonfeld GmbH vom 29. Juni bis 06. Juli 2020 eine telefonische Umfrage unter 2.026 zufällig ausgewählten deutschsprachigen Bürgerinnen und Bürgern ab 18 Jahren durchgeführt (siehe hier). Die Umfrage wurde 2021 wiederholt (Erhebungszeitraum: 15.03. bis 22.03.2021; Anzahl der Befragten: 1.511).

Aus der Umfrage 2021 soll im Folgenden die Erfahrungen der Befragten mit verschiedenen Behörden dargestellt werden.

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Niemand wird ins Bergfreie fallen.

Die PolitikerInnen, die das Sondierungspapier für die Regierungsbildung geschrieben haben oder schreiben ließen, haben sprachliche Feinheiten eingebaut.

Die  betroffenen  Regionen  [Anm. AH: des Kohleausstiegsgesetzes] können  weiterhin  auf  solidarische  Unterstützung  zählen. Maßnahmen  des  Strukturstärkungsgesetzes  werden  vorgezogen  bzw.  beschleunigt.  Die flankierenden arbeitspolitischen Maßnahmen wie das Anpassungsgeld werden entsprechend angepasst. Niemand wird ins Bergfreie fallen. Geprüft wird die Errichtung einer Stiftung oder Gesellschaft, die den Rückbau der Kohleverstromung und die Renaturierung organisiert.

Ergebnis der Sondierungen zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, 2021, S. 3; (Hervorhebungen: AH)

Zu dieser Redewendung heißt es bei Wikipedia:

Während des Regalbergbaus mussten zur Finanzierung der Bergbeamten besondere Abgaben von den Bergbautreibenden entrichtet werden. Diese Abgaben waren das Rezessgeld und das Quatembergeld und wurden in den meisten deutschen Staaten erhoben. Die Abgaben wurden je nach Bergrevier teilweise zusammen oder getrennt veranschlagt, die Höhe der Abgaben wurde nach bestimmten Sätzen festgesetzt. Diese Sätze waren in der Regel abhängig von der Größe des verliehenen Grubenfeldes.

Das Rezessgeld musste für jedes vom Staat verliehene Bergwerkseigentum entrichtet werden. Dabei war es unerheblich, ob das Bergwerk in Betrieb war oder nicht. Das Rezessgeld musste regelmäßig zum Quartal an das Bergamt abgeführt werden. Hatte ein Bergwerkseigentümer das Rezessgeld am Ende des Quartals nicht bezahlt, so wurde er zunächst durch ein förmliches Schreiben vom Bergamt an die Zahlung erinnert. Wurde das Rezessgeld trotz Erinnerung in den drei darauf folgenden Quartalen (in Summe also vier Quartale) auch nicht bezahlt, so fiel das Grubenfeld oder Bergwerk an den Staat zurück und konnte an einen anderen Muter verliehen werden. Diesen Vorgang bezeichnete man mit dem Begriff ins Bergfreie fallen. Diese Regelung war nach der damaligen Fassung der Berggesetze notwendig, damit die erforderliche Freifahrung eines ins Bergfreie gefallenen Bergwerks auch begründet werden konnte.

https://de.wikipedia.org/wiki/Rezessgeld

Heute ist damit gemeint, dass kein Bergmann nach Schließung einer Zeche arbeitslos werden sollte.

Nun ist wohl anzunehmen, dass die Sondierenden durch den Sprachgebrauch „ins Bergfreie fallen“ den Betroffenen zeigen möchten, dass sie ihre Sprache sprechen. Auch um den Preis, dass viele andere LeserInnen des Sondierungspapiers außerhalb des Bergbaus mit dieser Redewendung nichts anfangen können. Man könnte der Einsatz dieser Redewendung auch als Anbiederung deuten. Die Sondierenden hätte demnach auch verständlicher schreiben können, dass wegen den vorgesehenen Maßnahmen niemand arbeitslos werden soll.

Das wäre dann allerdings dann ein Versprechen gewesen, dass von einer viel größeren Gruppe hätte überprüft werden können, ob es eingehalten wurde oder nicht. Das hätte auch den Nachteil gehabt, dass man das Wort „arbeitslos“ oder „Arbeitslosigkeit“ im Sondierungspapier hätte verwenden müssen. Obwohl Massenarbeitslosigkeit seit Jahren ein Problem darstellt (siehe hier), haben die Sondierenden darauf geachtet, dass das Wort in ihrem Ergebnispapier nicht vorkommt.

Auf die Ansage „Geprüft wird die Errichtung einer Stiftung oder Gesellschaft, die den Rückbau der Kohleverstromung und die Renaturierung organisiert.“ ist auf die Ruhrkohle AG bzw. die RAG-Stiftung hinzuweisen, die den Nachbergbau organisiert. Auch für die Ruhrkohle AG galt die Devise, dass niemand ins Bergfreie fallen sollte. Die Redaktion Revierkohle schrieb, dass dennoch 2019 200 Menschen eine Kündigung bekommen haben (https://www.revierkohle.de/rag-niemand-faellt-ins-bergfreie/). Die Betroffenen hatten lediglich befristete oder Zeitarbeitsverträge angeboten bekommen mit schlechterer Bezahlung.

Ziehen die Sondierenden prekäre Arbeit in Betracht um ihr Versprechen, dass niemand ins Bergfreie fällt, einzuhalten oder schließen sie dies aus?

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Sanktion und Integration

Nach 15 Jahren Fördern und Fordern in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II, sog. Hartz IV) und einem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom November 2019, welches Sanktionen in diesem Rechtskreis für teilweise verfassungswidrig erklärt hat, haben sich die SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP in ihren Sondierungen auf die Beibehaltung von Mitwirkungspflichten verständigt. Gleichzeitig werden fehlende Anreize der Leistungsberechtigten zur Arbeitsaufnahme behauptet (siehe hier). Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings darauf hingewiesen, dass Sanktionen, die zu einer Senkung der Transferleistung unter das grundgesetzlich garantierte sozio-kulturelle Existenzminimum führen, begründet sein müssen und die unterstellte Wirkung – Arbeitsaufnahme – dadurch eintritt.

Welche Wirkung haben nun Sanktionen auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit?

Dies lässt sich beispielsweise an zwei Größen berechnen: die Integrationsquote (zu erklärende Variable) und der Umfang der Leistungskürzung durch Sanktionen.

Die Integrationsquote K2 ist eine Kennzahl, die dem Leistungsvergleich zwischen den Jobcenter dient. Die Kennzahl misst die Zahl der Integrationen in den vergangenen zwölf Monaten im Verhältnis zum durchschnittlichen Bestand an erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in diesem Zeitraum (Datenquelle: Servicestelle SGB II).

Für die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (ELB) im Bestand wird festgestellt, ob zum Stichtag mindestens eine wirksame Sanktion vorliegt. Auf Basis dieser Bestandszählung wird dargestellt, wie viele erwerbsfähige Leistungsberechtigte zum Stichtag sanktioniert sind und wie sich die Sanktionen auf die Höhe des Leistungsbezugs auswirken. Dies drückt den Anteil der Kürzung durch die aktuell wirksamen Sanktionen einer Person an dem laufenden Leistungsanspruch, den die Person ohne Sanktionierung gehabt hätte (Datenquelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit).

Eine Regressionsanalyse für die Monate Juli 2016 bis einschließlich Oktober 2019 (Zeitraum vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts) für alle Jobcenter auf der Ebene Deutschlands zeigt einen negativen Zusammenhang: je höher der Anteil der Kürzung durch Sanktionen in einem Jobcenter, desto niedriger ist die Integrationsquote. Steigt der Anteil der Kürzung durch Sanktionen eines durchschnittlichen Jobcenters um einen Prozentpunkt, dann sinkt die Integrationsquote K2 um 1,83 Prozentpunkte.

Für den Zeitraum Dezember 2019 bis einschließlich Juni 2021 ist die Richtung genau so: je höher der Anteil der der Kürzung durch Sanktionen in einem Jobcenter, desto niedriger ist die Integrationsquote. Der Einfluss ist allerdings geringer: Steigt der Anteil der der Kürzung durch Sanktionen eines durchschnittlichen Jobcenters um einen Prozentpunkt, dann sinkt die Integrationsquote K2 um 0,7 Prozentpunkte in diesem Zeitraum. Wie dieser Rückgang von 1,83 auf 0,7 Prozentpunkte erklärt werden kann, lässt sich aus den Daten nicht erschließen. Sicherlich hat die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts einen Anteil daran. Die besonderen Bedingungen der Sars-CoV-2-Pandemie spielen vermutlich gleichfalls eine Rolle.

Der Wert für den November 2019 wurde nicht berücksichtigt, weil in diesem Monat sowohl die alte wie die neue Rechtslage gegeben war.

Fazit:

Die Senkung der Transferleistung der Jobcenter unter das Existenzminimum durch Einsatz von Sanktionen zur verstärkten Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist fragwürdig. Diese sollte bei der Änderung der Rechtslage durch die neue Bundesregierung berücksichtigt werden.

Statistischer Teil

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