Bürgergeld: die Lösung ist das Problem

Die SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP haben sich in ihren Sondierungen mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II; sog. Hartz IV) beschäftigt und ein „Bürgergeld“ in den Mittelpunkt der geplanten Vorhaben gestellt. Konzepte des „Bürgergeldes“ der letzten Jahre basieren häufig auf der monetaristischen Konzeption von Milton Friedman.

Festgehalten ist:

Anstelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) werden wir ein Bürgergeld einführen. Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein. Es soll Hilfen zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt stellen. Während der Corona-Krise galten großzügige Regelungen zu Schonvermögen und zur Überprüfung der Wohnungsgröße. Wir prüfen, welche dieser Regeln wir fortsetzen wollen. An Mitwirkungspflichten halten wir fest und prüfen, wie wir hier entbürokratisieren können. Die Zuverdienstmöglichkeiten wollen wir verbessern, mit dem Ziel, Anreize für Erwerbstätigkeit zu erhöhen.“

Ergebnis der Sondierungen zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, 2021, S. 6; (Hervorhebungen: AH)

Was positiv oder fortschrittlich klingen soll (Bürgergeld, Würde, Hilfen), kommt einer Fortsetzung des Fördern (Hilfen zur Rückkehr) und Fordern (Mitwirkungspflichten) unter anderem Namen gleich, das dem SGB II von Anfang eingeschrieben wurde. Das Wort „Mitwirkungspflicht“ selbst ist nicht nur eine Beschönigung, sondern auch unlogisch. Mitwirken und Pflicht schließen sich aus, genauso wie „Freiwilligkeitszwang“.

Trotz der Würde des Einzelnen, die auch im Grundgesetz verankert ist, unterstellt und wiederholen die Sondierungspartner von SPD, Grüne und FDP die generelle Behauptung, dass die Arbeitslosen nicht arbeiten wollen. Das zeigt sich sowohl an der geforderten„Mitwirkungspflicht“ als auch an der Annahme, dass es an Anreizen der Arbeitslosen zur Erwerbstätigkeit fehlt. Konsequenterweise haben die Parteien darauf geachtet, dass im gesamten Ergebnispapier das Wort „arbeitslos“ nirgends vorkommt. Arbeitslosigkeit wird als existierendes Problem ausgeblendet.

Eingeblendet in die Wahrnehmung der Wählerinnen und Wähler werden unzureichende Arbeitsanreizwirkungen, welche angeblich die Reintegration der Arbeitslosen in Beschäftigung hemmen. Unausgesprochen wird den LeserInnen signalisiert, dass zusätzlich erzieltes Erwerbseinkommen unterhalb der Leistungs- oder Bedarfsschwelle wegen der Anrechnung nicht lohnt und so die Leistungsanreize durch staatliches Verhandeln verkümmern und sich die Betroffenen mehr oder weniger freiwillig im System einrichten, statt Arbeit zu suchen und aufzunehmen. Deshalb soll auch lediglich der Zuverdienst verbessert werden, statt Schritte auf dem Weg zur existenzsichernden Beschäftigung einzuschlagen. Das entwertet die Bedeutung des Sozialstaats.

Dass es für alle Arbeitslosen, gesetzt den Fall, alle würden arbeiten wollen, gar nicht genügend offene Stellen gibt, wissen auch die PolitikerInnen(September 2021: Arbeitslose: 1,9 Mio., gemeldete Stellen bei der BA: 0,6 Mio.; Lücke: 1,3 Mio.). Auch wissen sie, dass Diskriminierung aufgrund von ethnischer oder sozialer Herkunft oder Alter auf dem Arbeitsmarkt gleichfalls eine hemmende Rolle bei der Aufnahme von Beschäftigung spielt. Das wird nicht berücksichtigt.

Dennoch verkünden sie populistisch, dass der Anreiz zum Arbeiten fehlt. Vielleicht geht es lediglich darum, dass die Arbeitslosen zu wenig Anreize haben, zu niedrigen Löhnen oder prekär zu arbeiten.

Mit der geplanten Erhöhung des anrechnungsfreien Einkommens im SGB II sind allerdings auch unerwünschte Folgen verbunden.

Durch die Erhöhung des anrechnungsfreien Einkommens würde die Zahl der Leistungsberechtigten unter sonst gleichen Bedingungen erhöht werden. Das Bürgergeld würde demnach teurer werden als das bisherige System. Deshalb sind einer faktischen Erhöhung der Anreize auch Grenzen gesetzt.

Ein anderes Problem ergibt sich daraus, dass Unternehmen, die einen „Zusatzverdienstler“ beschäftigen, möglicherweise andere Unternehmen verdrängen, die regulär beschäftigen. Neben der Schaffung zusätzlicher, mit Bürgergeld subventionierten Arbeitsplätze werden sicherlich auch vorhandene Arbeitsplätze verdrängt.

Vermutlich werden eher Arbeitsplätze zusätzlich entstehen, die nicht tarifbezogen sind (die Gewerkschaften sind wohl weiterhin zu schwach, um dem etwas entgegensetzen zu können) und lediglich dem Mindestlohn unterliegen, der für Langzeitarbeitslose nach geltendem Recht auch unterschritten werden darf. Der Staat subventioniert den Arbeitgeberlohn („Kombilohn“). Es gibt mit dem Bürgergeld dann nicht weniger Arme, sondern mehr erwerbstätige Arme (Working poor; siehe auch hier). Denn bereits jetzt arbeiten sog. Hartz IV-EmpfängerInnen parallel zum Leistungsbezug. Im Jahr 2020 waren rund 24 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (SGB II) erwerbstätig und im Jahr 2019 waren es 26 Prozent.

Dabei gibt es in der gegenwärtigen Grundsicherung für Arbeitsuchende Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Das zeigt das folgende Beispiel exemplarisch.

Alleinstehend, über 25 Jahre altarbeitsloserwerbstätig, Steuerklasse I, 20 Wochenstunden beschäftigt zu 12 Euro pro Stunde brutto
Miete monatlich 400 Euro
Heizungskosten monatlich 50 Euro
Anspruch nach dem SGB II
Regelleistung 446 Euro446 Euro
Bedarf: Miete, Nebenkosten, Heizung)450 Euro450 Euro
Gesamt 896 Euro
Lohn1.040 Euro brutto
830,70 Euro netto
anrechenbare Einkünfte537 Euro
Freibetrag inkl. Versicherungspauschale264 Euro
voraussichtliches Arbeitslosengeld II896 Euro359 Euro

Durch Erwerbstätigkeit im beschriebenen Umfang wird das verfügbare Einkommen bereits im gegenwärtigen System um 43,2 Prozent erhöht. Von einer anreizlosen Transferentzugsrate kann hier nicht die Rede sein.

Dem Bundestagswahlprogramm der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach soll der Regelsatz um 50 Euro erhöht werden. Damit würde im vorgenannten Beispiel das verfügbare Einkommen um 49,2 Prozent erhöht werden, also 6 Prozentpunkte mehr als bisher. Die FDP und die SPD machen keine quantitativen Aussagen.

Die vorgeschlagenen Lösungen im Sondierungspapier scheinen eher Teil des Problems zu sein und werden weder Massenarbeitslosigkeit noch prekäre Arbeit wirksam abbauen.

Literatur:

Meinhardt, V. u.a. 1994: „Bürgergeld“. Keine Zauberformel, in: DIW-Wochenbericht Nr. 41/1994, S. 689ff

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Teilhabe am Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg

„Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§ 16i SGB II) soll als Instrument des sog. Teilhabechancengesetzes seit 1.1.2019 die Teilhabe von Langzeitleistungsbeziehenden fördern (siehe auch hier). Dabei geht es um Personen, die in der Regel innerhalb der letzten sieben Jahre sechs Jahre Arbeitslosengeld II bezogen haben, unabhängig davon, ob sie arbeitslos waren oder nicht.

Im Folgenden (und im Download ausführlicher) wird die Situation Baden-Württemberg dargestellt (Zum Bund siehe hier).

Die Nutzung des Instruments verliert an Dynamik. Sowohl für die Eintritte (bereits seit 5/2019) als auch für den Bestand (seit 1/2021) ist ein Rückgang zu beobachten.

Die geplanten Teilnahmedauern liegen mehrheitlich unter 25 Monaten. Die Arbeitgeber bevorzugen eine Förderdauer, in der die Förderquote am höchsten ist und die degressive Förderung noch nicht wirkt. Teilweise gibt es auch sehr kurze Förderdauern. Die Werte für 2019 und 2020 sind denen von 2021 vergleichbar.

Ein Hauptgrund für Austritte sind Kündigung durch Arbeitgeber: 37 % der Austritte (2020) sind darauf zurückzuführen.

Von den Austritten sind 3 von 4 vorzeitig.

Zu den vorzeitige Austritten auf Bundesebene: siehe hier.

Durch den hohen Anteil an vorzeitigen Austritten ergibt sich eine relativ kurze (im Vergleich zur möglichen) durchschnittliche tatsächliche Förderdauer von 9,3 Monaten (2020).

Außerdem sind Creaming-Effekte §16i SGB II zu beobachten: unterdurchschnittliche Förderung von Frauen und Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit (Zahlen auf Bundesebene).

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Einkommensungleichheit in Deutschland steigt seit 30 Jahren

Die Einkommensungleichheit ist in Deutschland seit 30 Jahren massiv gestiegen.

Diese Aussage gilt sowohl für die Markteinkommen (vor Steuerung und Sozialtransfers) als auch für (Einkommen nach Steuern, Abgaben und Transferleistungen), wenn man die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter betrachtet.

Das zeigt die folgende Abbildung.

Quelle der Daten: OECD; 2019: Eurostat; Gini-Index für Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter

Um eine Einkommensungleichverteilung zu messen wird häufig der sog. Gini-Koeffizient oder auch Gini-Index herangezogen. Dabei handelt es sich um ein statistisches Maß, das Werte zwischen 0 (bei einer gleichmäßigen Verteilung) und 1 (wenn nur eine Person das komplette Einkommen erhält, d. h. bei maximaler Ungleichverteilung) annimmt. Eine gleichmäßige Verteilung meint, dass das Einkommen jedes Erwachsenen gleich hoch ist.

In Deutschland stieg die Einkommensungleichverteilung bis zum einem Höhepunkt im Jahr 2004/2005. Danach fiel der Gini-Index etwas bis 2011 um dann wieder anzusteigen.

Die Ungleichheit der Markteinkommen ist seit 2015 etwas stärker gesunken als die verfügbaren Einkommen, die im gleichen Zeitraum eher stagnierten und in 2019 wieder anstiegen.

Bemerkenswert ist die zunehmende Ungleichverteilung des Einkommens auch in Zeiten einer guten Wirtschaftskonjunktur und Beschäftigtenanstieg. Die Verschärfung der Ungleichverteilung erfolgte auch völlig unabhängig davon, welche Parteien die Bundesregierung bildeten. Die Gesetzgebung von 30 Jahren hat hier keinen größeren Senkungsbeitrag bewirkt.

Offensichtlich sind seit mehr als 20 Jahren die Sozialtransfers (einschließlich neuer Leistungen) und die Steuerpolitik kaum in der Lage, die Einkommensungleichheit zu mildern (sinkende absolute Umverteilung). Eine Fortschreibung der bisherigen Politik und Rechtsetzung würde die Entwicklung zu mehr Ungleichheit festigen – eine Änderung ist nötig. Dies gilt noch stärken für die Ungleichheit bei Vermögen, auch im europäischen Vergleich.

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Gehört Massenarbeitslosigkeit der Vergangenheit an?

Nach der Veröffentlichung der September-Arbeitslosenzahlen durch die Bundesagentur für Arbeit schreibt die Frankfurter Rundschau am 1.10.21:

„Deutschland hat die Corona-Krise bisher gut verkraftet. Und die Arbeitsmarktzahlen deuten noch auf etwas anderes hin. Die Zeiten, in denen sich große Teile der Bevölkerung Sorgen machen mussten, wenn sie ihre Arbeit verloren, sind vorbei. Massenarbeitslosigkeit gehört offenbar der Vergangenheit an. Dafür drohen andere Probleme.“

Björn Hartmann, FR v. 1.10.21, S. 14, https://tinyurl.com/yetcxxrx

Aktuell gibt es rd. 2,5 Mio. Arbeitslose und 3,2 Mio. Unterbeschäftigte (Arbeitslose einschließlich Teilnehmende in Maßnahmen der Arbeitsverwaltung).

Da stellt sich die Fragen, ab wie viel Millionen der FR-Autor von Massenarbeitslosigkeit sprechen würde und sich große Teil der Bevölkerung Sorgen um Arbeitslosigkeit machen müssten. Offensichtlich neigt der Autor dazu, eine Arbeitslosenquote von 10% und mehr als Massenarbeitslosigkeit zu werten:

Die Zeiten zweistelliger Arbeitslosenquoten sind offenbar vorbei.

Das Problem der Massenarbeitslosigkeit wird in diesem Beitrag auf weitere Weisen relativiert. Es wird berichtet, wie die Entwicklung ohne die Corona-Pandemie vermutlich gewesen wäre.

„…die Arbeitslosenquote betrug 5,4 Prozent. Ohne den Corona-Effekt – noch sind 930 000 Beschäftigte in Kurzarbeit – wären es 4,9 Prozent gewesen.“

Dadurch erscheint die Behauptung, Massenarbeitslosigkeit gehört der Vergangenheit an, zahlenmäßig noch deutlicher. Das was-wäre-wenn-ohne-Corona-Szenario mildert ja die Sorgen der Betroffenen ja nicht, denn die Pandemie ist ja da.

Auch in absoluten Zahlen ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu 2005 zurückgegangen. Dabei werden die zahlreichen statistischen Änderungen der Definition Arbeitslosigkeit nicht erwähnt. Zudem ist das Vergleichsjahr 2015 wegen der EDV-Umstellung durch die Einführung des SGB II denkbar ungünstig. Würde man 2004 als Bezugsjahr nehmen ist der Unterschied deutlich kleiner.

Außerdem werden nur die sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse herangezogen. Minijobber können nicht „arbeitslos“ im statistischen Sinne werden. Dennoch können sie sich Sorgen wegen dem Verlust ihrer Arbeit machen. Und Minijobber haben während der Pandemie in großem Umfang ihre Arbeit verloren.

Der Autor Björn Hartmann ist allerdings noch mutiger als die Bundesagentur für Arbeit: er prognostiziert das Ende der Massenarbeitslosigkeit („gehört der Vergangenheit an“), und nicht nur eine aktuelle Reduzierung.

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Kleinparteien zur Bundestagswahl 2021

Die GARTENPARTEI stellt sich zur Bundestagswahl 2021. Einer ihrer Programmpunkte:

„Hartz IV, 1 Euro-Jobs und unbezahlte Praktika sind als Menschen erniedrigende Einrichtungen abzuschaffen.“

Auch wenn man gegen HARTZ IV ist, und seine Abschaffung erreichen will, sollte man dazu sagen, was an die Stelle tritt. Entsprechende Aussagen fehlen im Programm dieser Partei. Die Abschaffung von Hartz IV ohne Alternative wäre für alle Betroffenen schlimmer als die Fortsetzung dieses Regelwerks.

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SPD verspricht im Bundestagsprogramm neuartige Arbeitslosenversicherung

Wir wollen die Arbeitslosenversicherung zu einer solidarischen Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Sie soll nicht erst im Fall der Arbeitslosigkeit auf den Plan treten, sondern dabei helfen, diese gar nicht erst entstehen zu lassen.

Bundestagswahlprogramm der SPD 2021, S. 31

Das ist eine neuartige Versicherung, die verhindert, dass der Versicherungsfall eintritt.

Zielführend zur Absicherung des Risikos Arbeitslosigkeit wäre überdies, alle Beschäftigungsverhältnisse versicherungspflichtig bei der Arbeitslosenversicherung (Rechtskreis SGB III) zu machen.

Mit der Formulierung aus dem Bundestagswahlprogramm (https://www.spd.de/zukunftsprogramm/) werden weiterhin nur Personen erreicht und unterstützt, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Minijobber (rund 5 Mio. Beschäftigte) und alle Beschäftigten des sog. „sozialen Arbeitsmarktes“ (Rechtskreis SGB II) blieben wie bisher ausgeschlossen.

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Inflation und Arbeitslosigkeit

Seit 25 Jahren liegt in Deutschland die Inflationsrate zwischen null und zwei Prozent. Diese Periode unterscheidet sich somit deutlich von früheren. Ausnahmen gab es lediglich 2007 und 2008, also zur Zeit der Weltfinanzkrise. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank mit der Zielinflationsrate von knapp unter zwei Prozent führte seit 2007 (niedrige Zinsen, Wertpapierkauf, Fiskalpakete) nicht zu einer steigenden Inflation, was nach der herrschenden Vollwirtschaftslehre wie dem Monetarismus hätte die Folge sein müssen.

Quelle der Daten: Statistisches Bundesamt

Für 2021 zeichnet sich nun eine Inflationsrate von mehr als zwei Prozent ab. Dies erklären mehrere Gründe:

  • Rückführung der in der Corona-Pandemie reduzierten Mehrwertsteuersätze auf das frührere höhere Niveau
  • Einführung einer CO2-Abgabe
  • Verteuerung der Energiekosten, vor allem beim Öl
  • Der Warenkorb mit den Gütern, deren Preise verglichen werden, wurde neu zusammengestellt

Die aktuelle Steigerung führt teilweise zu dramatischen Erwartungen in den Medien über die damit verbundenen negativen Folgen. Viele Menschen haben Angst vor einer Geldentwertung.

Wie sieht der Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit aus?

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Front am Arbeitsmarkt

Insgesamt zeigt sich auf breiter Front ein Erholungseffekt am deutschen Arbeitsmarkt“, sagt IAB-Arbeitsmarktforscher Alexander Kubis.

(Quelle: Presseinformation des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vom 19.08.2021: Ergebnisse der IAB-Stellenerhebung für das zweite Quartal 2021: Offene Stellen im Verarbeitenden Gewerbe steigen gegenüber dem Vorquartal um 21 Prozent; Zugriff am 28.8.2021)

Die „Front“-Aussage, wiedergegeben in zahlreichen Medien, führt zu weiterführenden Fragen.

  • Wie heißt die Front und seit wann besteht sie?
  • In welchem Krieg ist diese Front Bestandteil?
  • Wer hat den Krieg erklärt?
  • Wie ist der Frontverlauf?
  • Wer sind die Frontsoldaten und Generäle auf beiden Seiten der Front?
  • Welche Erfolge gab es bisher an der Front?
  • Führt der Erholungseffekt zum Fronturlaub?
  • Wie lange wird die Front und der damit in Verbindung stehende Krieg noch gehen?
  • Müssen wir uns Sorgen machen?
  • Da es Alternativen in der Beschreibung des Sachverhalts gibt: warum benutzt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, eine Bundesbehörde, Militärsprache?

U.A.w.g.

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Wirtschaftswachstum senkt nicht die Arbeitslosigkeit

Seit Jahren wird in der dominierenden Volkswirtschaftslehre und den Regierungen ein Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit unterstellt, wonach ein Wirtschaftswachstum Arbeitslosigkeit reduziert. Aktuell findet sich diese Behauptung auch in Parteiprogrammen zur Bundestagswahl 2021 wieder. So z. B. bei der CDU im Kapitel 3 des Wahlprogramms. Auf der Webseite https://www.ein-guter-plan-fuer-deutschland.de/ der CDU steht auch:

Nach der Pandemie muss Deutschland durchstarten. Das geht nur mit wirtschaftlicher Dynamik, erfolgreichen Unternehmen und Wachstum. Nur so gibt es auch in Zukunft sichere und gute Arbeitsplätze. (Zugriff: 21.8.2021; Hervorhebung: AH)

Beim Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit wird überdies angenommen, dass ab einem bestimmten Wachstum die Arbeitslosigkeit reduziert wird, die sog. Arbeitslosigkeitsschwelle. Übersteigt die Arbeitslosigkeitsschwelle die Beschäftigungsschwelle (Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung), dann sinkt die Arbeitslosigkeit, so die Behauptung.

Das Wirtschaftswachstum wird gemessen als das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt als Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent (Quelle: Statistisches Bundesamt) , die Arbeitslosigkeit wird gemessen als Arbeitslose zivile Erwerbspersonen in ihrer Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent (Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit).

Die Zeitreihe für das BIP-Wachstum seit 1992 zeigt, dass die Veränderung sich mit wenigen Ausnahmen in einem schmalen Korridor um den Mittelwert 2,62 % bewegt und positiv ist (Wachstum). Die Ausnahmen mit einer negativen Veränderung sind zeitlich in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 und der Corona-Pandemie 2020 zu verorten.

Anders stellt sich die Zeitreihe der Veränderung der Arbeitslosenzahl dar. Die Veränderungsraten liegen zwischen +18,9 % und -16,9 %. Der Mittelwert der Veränderungsraten liegt bei 0,47 %. Es gibt 12 Zunahmen der Arbeitslosenraten im Zeitraum 1992/2020.

Die Veränderung der Arbeitslosenzahl ist wesentlich dynamischer als die des realen Wirtschaftswachstums.

Für den gleichen Zeitraum lässt sich die Arbeitslosigkeitsschwelle ermitteln.

Eine Regressionsanalyse ergibt, dass ein Wachstum des BIP um rd. 3,6 % die Veränderungsrate der Arbeitslosenzahl um 1 Prozentpunkt reduziert (Arbeitslosigkeitsschwelle). Wie erwähnt beträgt der langjährige Mittelwert realen Wirtschaftswachstums 2,6 %. Im Trend reduziert demnach das Wirtschaftswachstum die Arbeitslosigkeit nicht wesentlich (um 0,5 Prozentpunkte).

Außerdem müsste die Arbeitslosigkeitsschwelle die Beschäftigungsschwelle noch übersteigen. In der Vergangenheit lag die Beschäftigungsschwelle bei 1 % – 1,5 % BIP-Wachstum.

Die Bestimmtheitsmaß R², welches die Stärke des Zusammenhangs der beiden Indikatoren BIP-Wachstum und Änderung der Arbeitslosenzahl anzeigt (0 = kein Zusammenhang, 1 = perfekter Zusammenhang), beträgt 0,138 (p=0,047). Nach den üblichen statistischen Maßstäben ist dieser Zusammenhang sehr klein.

Die Daten zeigen, dass das Wirtschaftswachstum die Veränderung der Arbeitslosenzahl kaum beeinflusst und Arbeitslosigkeit sich durch Wirtschaftswachstum für sich genommen nicht reduzieren lässt. Hier spielen weitere Indikatoren wie Arbeitsproduktivität oder Kurzarbeit eine Rolle.

Aussagen in Parteiprogrammen, die suggerieren, durch ein Wirtschaftswachstum Beschäftigung zu schaffen und dadurch dann Arbeitslosigkeit zu reduzieren, haben für den Zeitraum seit 1992 keine empirische Basis. Um Arbeitslosigkeit abzubauen braucht es andere Strategien.

(aktualisiert am 1.9.2021)

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Arbeitsmarktentlastung

Die Bundesagentur für Arbeit beschreibt regelmäßig Maßnahmen, die eine arbeitsmarktpolitische Entlastung bewirken. Dies wird durch die Medien so wiedergegeben oder auch eigenständig von Arbeitsmarktentlastung geschrieben.

So heißt es zum Beispiel in einer Pressemitteilung einer Agentur für Arbeit:

„Nach vorläufigen Berechnungen belief sich die Zahl der Arbeitslosen und Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die den Arbeitsmarkt entlasten, im Berichtsmonat auf 7.785 Männer und Frauen.“ (Hervorhebung AH; https://www.arbeitsagentur.de/vor-ort/pirna/content/1533730083745, Zugriff am 14.8.2021)

Oder aus einer Überschrift einer Tageszeitung

Leichte Entlastung auf dem Arbeitsmarkt hält an – Entwicklung Arbeitsmarkt im Oktober / 827 Arbeitslose weniger als im Vormonat“ (Hervorhebung AH; https://www.nrwz.de/wirtschaft/leichte-entlastung-auf-dem-arbeitsmarkt-haelt-an/290631, Zugriff am 14.8.2021)

Beide exemplarischen Zitate legen eine Interpretation nahe, wonach Arbeitswillige den Arbeitsmarkt belasten. Mit Maßnahmen wird somit der Arbeitsmarkt von Belastung durch Arbeitswilligen geschont.

„In der Unterbeschäftigung (ohne Kurzarbeit) nach dem Konzept der BA sind neben den Arbeitslosen die Personen enthalten, die an entlastenden Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik teilnehmen oder zeitweise arbeitsunfähig erkrankt sind und deshalb nicht als arbeitslos gezählt werden.“ (beispielhaft aus dem Glossar zu „Personen im Kontext von Fluchtmigration – Frauen und Männer (Monatszahlen)“)

Die Entlastung des Arbeitsmarktes wird berechnet (Entlastungsrechnung) und bei den Daten zur Unterbeschäftigung ausgewiesen. Die Entlastungswirkung hält allerdings nur für die konkrete Dauer der Maßnahmen an.

„Die Entlastungswirkung ist dagegen nur ein zeitlich befristeter Effekt von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten, der für die Unterbeschäftigungsrechnung relevant ist. … Die Entlastungsrechnung ist als pragmatische Näherungslösung zu verstehen.“ (https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Grundlagen/Statistik-erklaert/Arbeitsuche-Arbeitslosigkeit-Unterbeschaeftigung/Unterbeschaeftigung.html?templateQueryString=arbeitsmarkt+entlastung, Zugriff am 14.8.2021)

Vielleicht handelt es sich bei der Begriffswahl nicht um Verhöhnung oder Verschleierung (Stichwort „geschönte Arbeitsmarktstatistik“), sondern „nur“ um schlechtes Behördendeutsch. Da Sprache selbst eine Wirkung erzeugt, sollten die Politiker*innen, die Beschäftigten der Arbeitsverwaltung und der Medien die Begrifflichkeit von Entlastung des Arbeitsmarktes verzichten.

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