EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne korrekt umsetzen

Die Krise der Lebenshaltungskosten (insbesondere Energie und Lebensmittel) ist ein wichtiger Aspekt, mit der sich ein wachsender Teil von Haushalten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen (vor allem Erwerbsaufstockende im SGB II) auseinandersetzen muss. Die Inflation ist gestiegen, die Reallöhne sinken und die Sozialleistungen (einschließlich des Zugangs wie z. B. zu Kinderbetreuung) werden nicht entsprechend angepasst. Positiv ist in diesem Zusammenhang die Richtlinie der EU über angemessene Mindestlöhne. Sie könnte den Lebensstandard von Niedriglohnbeschäftigten erhöhen (s. hier).

Die Richtlinie (EU) 2022/2041 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober 2022 über angemessene Mindestlöhne (Amtsblatt L 275) legt fest, dass die Mindestlöhne einen angemessenen Lebensstandard für Vollzeitbeschäftigte gewährleisten müssen. Das soll transparent werden.

„Die Mitgliedstaaten legen bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrunde. Zu diesem Zweck können sie auf internationaler Ebene übliche Referenzwerte wie 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden, verwenden.“

(Art. 5)

Der deutsche Bruttodurchschnittslohn lag 2022 bei 3.319 Euro monatlich und bei 30,68 Euro je Arbeitnehmerstunde (Destatis, Fachserie 18). Würde man die in der Richtlinie genannte Referenzschwelle ansetzen, dann würde der Mindestlohn im Monat 1.659,50 Euro betragen und die Stunde 15,34 Euro. Der Betrag von 15,34 Euro liegt deutlich höher als der zurzeit gültige gesetzliche Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde und wäre eine Verbesserung des Lebensstandards der Beschäftigten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen.

Die Mindestlohnkommission hat über eine Anpassung der Höhe des Mindestlohns bis zum 30. Juni 2023 mit Wirkung zum 1. Januar 2024 zu beschließen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Mindestlohnkommission sich auf einen Betrag von 15,34 Euro oder mehr einigt.

Bei dieser Festlegung und Aktualisierung sind nach Art. 5 der Richtlinie Kriterien zugrundezulegen, „die zu ihrer Angemessenheit beitragen, mit dem Ziel, einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern und das geschlechterspezifische Lohngefälle zu verringern. … Die Mitgliedstaaten können unter Berücksichtigung ihrer nationalen sozioökonomischen Bedingungen über das relative Gewicht dieser Kriterien, einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte, entscheiden.“ Zu diesen Aspekten gehören (nicht abschließend):

  • die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten;
  • das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung;
  • die Wachstumsrate der Löhne;
  • langfristige nationale Produktivitätsniveaus und -entwicklungen.

Es ist aufgrund der bisherigen Mindestlohnentwicklung (s. hier) und der damit verbundenen medialen und politischen Debatte anzunehmen, dass solche Spielräume (zumal die Referenzwerte eine Kann-Bestimmung darstellen) genutzt werden, um den Anstieg des gesetzlichen Mindestlohns zu begrenzen oder die eingeräumte Ratifizierungsfrist bis zum 15. November 2024 auszunutzen.

Unabhängig davon, nützt der höchste Mindestlohn nichts, wenn er von der Bundesregierung nicht durchgesetzt wird (s. auch).

Deshalb ist es wichtig, auf eine korrekte Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht zu beharren und ein „Schleifen“ der Richtlinie – wie z. B. bei der EU-Entsenderichtlinie geschehen (s. zum Beispiel) – zu verhindern.

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Wird für die Bundesregierung der Kampf gegen Arbeitslosigkeit nachrangig?

„In Deutschland wird es für viele, viele Jahre, vielleicht für mehr als ein Jahrzehnt nicht das Problem geben, dass wir gegen Arbeitslosigkeit kämpfen müssen. Was vor uns liegt, ist, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass die Betriebe genügend Arbeitskräfte finden, …“

Rede von Bundeskanzler Scholz am 1.5.2023 in Koblenz, zit. Nach https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-der-kundgebung-des-dgb-am-1-mai-2023-in-koblenz-2187254

Von registrierter Arbeitslosigkeit sind nicht allein 2,62 Mio. Personen betroffen, sondern 3,49 Mio. Menschen (s. hier).

Quelle: Daten der Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Darstellung

Offensichtlich sind rund 3,5 Mio. Menschen ohne Arbeit nicht genug, als dass sich die Bundesregierung weiterhin den Kampf gegen Arbeitslosigkeit zur Aufgabe macht. Möglicherweise deutet sich mit der Aussage des Bundeskanzlers eine Weichenstellung an, Betriebe mehr zu unterstützen, um Arbeitskräfte zu finden, als Arbeitslosigkeit abzubauen.

In der Konsequenz könnte dies bedeuten, dass die Fördermittel für Arbeitslose gesenkt werden und die Subventionen für Betriebe erhöht werden. Es könnte auch mehr Druck auf Arbeitslose ausgeübt werden („Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass alle ihre Chance nutzen.“ BK Scholz, a.a.O.)

Gespaltener Arbeitsmarkt

Dagegen bleibt festzuhalten, dass es einen gespaltenen Arbeitsmarkt gibt: zum einen wird seit Jahren ein Fachkräftemangel beklagt, und gleichzeitig sind viele arbeitslos. Das lässt sich damit erklären, dass wachsende (z. B. Erneuerbare Energien) und schrumpfende Branchen (z. B. jene, die stark der Digitalisierung ausgesetzt sind wie Logistik) und Regionen nebeneinander stehen. Da, wo Arbeitsplätze wegen der Umstellung von Verbrenner- auf Elektromotoren konzentriert entfallen, werden nicht in gleichem Umfang gut bezahlte Arbeitsplätze mit guten Arbeitsbedingungen und gleicher Qualifikation entstehen.

Es geht also nicht um den Wechsel des Kampffeldes im Sinne eines entweder/oder, sondern von parallelen Herausforderungen des sowohl als auch. Die Förderung von beruflicher Weiterbildung (s. z. B. hier) alleine wird nicht reichen. Das hat bereits von der Umschulung der „Schlecker“-Frauen zu Erzieherinnen nicht geklappt (z. B. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/folgen-der-schlecker-insolvenz-von-der-leyen-will-schlecker-frauen-als-erzieherinnen-1.1376492). Auch sind erfahrungsgemäß Appelle mehr auszubilden oder Tariflöhne zu zahlen zu wenig („Deshalb hier und an dieser Stelle der Appell: Es sollen sich alle noch einmal zusammenreißen und alles dafür tun, dass die Zahl der Ausbildungsplätze in Deutschland weiter steigt.“ und „Ich fahre gerne Fahrrad. Deshalb wünsche ich mir auch Tarifverträge in der Fahrradindustrie!“ BK Scholz, a.a.O.)

Solange es einen gespaltenen Arbeitsmarkt gibt, der droht noch größer zu werden, braucht es Ressourcen und gesetzliche Vorgaben zum Abbau der Arbeitslosigkeit und der Beschäftigungssicherung.

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Beschäftigte in Kurzarbeit und Arbeitslose interessieren sich stärker für Lebenshaltungskosten und Inflation

Seit dem Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine verschieben sich die Themenschwerpunkte beim Informationsverhalten der Bevölkerung. Damit ist die Debatte um die steigenden Lebenshaltungskosten bzw. stark gestiegene Inflationsrate verknüpft. Wen beschäftigen Lebenshaltungskosten und Preise/ Inflation?

Daten

Um diese Frage zu beantworten, wurden Daten heranzogen, die das Meinungsforschungsinstitut Info GmbH im Auftrag des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung als repräsentative Bevölkerungsbefragungen durchgeführt hat*. Im Erhebungszeitraum 01.06.2022 bis 16.06.2022 wurde die deutschsprachige Wohnbevölkerung ab 16 Jahren in telefonischen Interviews (CATI) befragt. Die Auswahl der Befragten erfolgte durch eine mehrstufige Zufallsstichprobe. Von 1.515 Personen liegen Antworten vor.

Bei der Erhebung wurde unter anderem offen gefragt: „Wenn Sie einmal an die Themen denken, die momentan die Gesellschaft, die Politik und die Medien beschäftigen: Welches Thema interessiert Sie da aktuell besonders?“ An der zweiten Stelle des aktuellen Themeninteresses sind die steigenden Lebenshaltungskosten (Benzin-, Energiekosten) bzw. stark gestiegene Inflationsrate (einschließlich unwirksame Entlastungsmaßnahmen) genannt worden. Ca. jede/r Fünfte äußerte spontan Interesse für dieses Thema (21%).

Analyse und Ergebnisse

Für die folgende Auswertung wurden die Daten entsprechend der Bevölkerungsstruktur gewichtet. Dazu wurden diejenigen, die das Thema Lebenshaltungskosten/Inflation an erster, zweiter oder dritter Stelle des Interesses genannt haben, zusammengefasst.

Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede der Befragten nach ihrem Arbeitsmarktstatus. Am meisten beschäftigen sich Beschäftigte in Kurzarbeit (rund 57 %) und Arbeitslose (32 %) mit diesem Thema. Vermutlich sind diese Gruppen stärker als andere von steigenden Lebenshaltungskosten und Inflationsraten betroffen.

ArbeitsmarktstatusZustimmung zu Themeninteresse
voll berufstätig (mind. 35 Std./Woche)24,3 %
teilweise berufstätig (weniger als 35 Std./Woche)19,9 %
in Kurzarbeit57,4 %
zurzeit arbeitslos32,0 %
Rentner/in, Pensionär/in17,8 %
in einer Ausbildung (Schüler/in, Azubi) oder einem Studium13,7 %
Bundesfreiwilligendienst (Freiw. Soz./Ökol. Jahr)0,0 %
Elternzeit/Mutterschutz26,8 %
nicht berufstätig17,4 %
Eigene Berechnungen; n=1.515

Weiter gibt es größere Unterschiede in der Bevölkerung nach Bundesländern. Das Spektrum reicht von 34,5 % im Saarland und Sachsen-Anhalt mit 33,4 % bis zu 16 % in Bremen.

Auch nach Parteipräferenzen gibt es Unterschiede: vergleichbar großes Interesse nannten Befragte mit Sympathie für CDU/CSU (25,9 %) und SPD (23,9 %), geringes Interesse nannten jene, die FDP (18,3 %) und Bündnis 90/Grüne (14,1 %) sympathisch finden.

Schlussfolgerung

Lebenshaltungskosten und Inflation sind das zweithäufigste genannte Interesse der Befragten. Den Daten nach zu urteilen, gibt es deutliche Unterschiede hierbei. Möglicherweise scheinen sich betroffene Personen mehr damit zu beschäftigen als die Bevölkerung insgesamt. Offen bleibt, wie sehr Medien Informationen zum Thema Lebenshaltungskosten und Inflation spezifisch aus der Perspektive von KurzarbeiterInnen und Arbeitslosen vermitteln.

*Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin (2022). Informationsverhalten zum Krieg in der Ukraine. GESIS, Köln. ZA7908 Datenfile Version 1.0.0, https://doi.org/10.4232/1.14040 .

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Ohne Teilzeit kein „stabiler“ Arbeitsmarkt

Unterbeschäftigung (Arbeitslosigkeit, Stille Reserve, Kurzarbeit, Teilnahme in Maßnahmen der Arbeitsverwaltung) und damit die Teilhabe an und durch Arbeit ist seit Jahrzehnten ein Problem, welches nicht grundsätzlich gelöst wurde (s. hier und hier).

Im Trend nimmt die Zahl der Erwerbstätigen (abhängig Beschäftigte, Selbständige und andere Formen) zu. Ihre Zahl stieg von rund 39 Mio. Personen im Jahr 1991 auf rund 45,5 Mio. Personen in 2022. Auch das Arbeitsvolumen nimmt parallel zu. Allerdings ist die durchschnittliche Arbeitszeit pro Person gesunken. Betrug die Jahresarbeitszeit 1991 noch 1.554 Stunden pro Person, so lag der Wert 2022 bei 1.341 Stunden.

Quelle der Daten: IAB

Das bedeutet, dass im Zeitverlauf mehr Arbeitsvolumen auf mehr Personen verteilt wurde, durch eine Zunahme an Teilzeitarbeit (Teilzeitquote bei den Beschäftigten 1991: 18,4 % und 2022 38,7 %, also doppelt so hoch).

Würde man die durchschnittliche Jahresarbeitszeit von 1991 bis zum Jahr 2022 konstant setzten, dann wären 2022 statt den rund 45,5 Mio. Personen nur rund 39 Mio. Personen erwerbstätig. Um die Differenz von 6,5 Mio. Personen wäre die Zahl der Arbeitslosen größer, sofern sie sich nicht vollständig vom Arbeitsmarkt zurückziehen.

Quelle der Daten:IAB

Der „stabile“ Arbeitsmarkt basiert stark auf der steigenden Teilzeitarbeit. Deshalb konnte die Zahl der registrierten Arbeitslosen auch sinken. Eine individuelle Teilzeittätigkeit könnte gesellschaftlich unproblematisch sein, wenn sie existenzsichernd entgolten werden würde. Die Armutsgefährdungsquoten zeigen (s. hier), dass dies häufig nicht der Fall ist. Weitere Daten zeigen, dass der deutsche Arbeitsmarkt durch einen großen Niedriglohnsektor geprägt ist (s. hier). Die seit 30 Jahren sinkende Jahresarbeitszeit verschärft demnach das Armutsproblem, wenn keine deutlichen Lohnsteigerungen damit verbunden werden.

Wenn man nun die Unterbeschäftigung in einem größeren Umfang als bisher abbauen möchte, wäre eine Steigerung des Produktionsvolumen (das Produktionsniveau bestimmt das Beschäftigungsniveau bei gegebener Technik) nötig. Das würde eine Erhöhung der Wachstumsrate über den Produktivitätsanstieg hinaus erfordern, beispielsweise durch Stimulierung der Investitionstätigkeit. Allerdings ist eine Erhöhung der Wachstumsrate mit ökologische Problemen verbunden (Stichworte: globale Erwärmung, Biodiversität, Wasserknappheit u. a.). Die Senkung der durchschnittlichen Produktivität würde den Niedriglohnsektor noch mehr ausweiten und ist dauerhaft auch nicht realistisch oder von Vorteil (s. hier).

Kurzfristig ist eher eine Reduzierung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitszeiten zielführend, wenn also das Arbeitsvolumen auf mehr Personen verteilt werden könnte. Das bedeutet eine andere Verteilung der Arbeit, indem die Zahl der Vollzeitbeschäftigten sinkt und die der Teilzeitbeschäftigten steigt, und zwar bei einen vollem Lohn- und Finanzierungsausgleich an dem die Arbeitgeber beteiligt sind.

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Ist der Arbeitsmarkt stabil?

Seitens der Bundesregierung und den Medien wird seit Monaten der „stabile Arbeitsmarkt“ hervorgehoben. Dabei wird allein auf die registrierte Arbeitslosigkeit (vgl. hier) Bezug genommen. Diese hat spätestens seit Einführung des SGB II (sog. „Hartz IV“) an Aussagekraft für eine Interpretation der Arbeitsmarktdynamik verloren. Gründe sind die veränderten Definitionen und Zählweisen.

Aussagekräftiger als die Arbeitslosigkeit ist das Maß der sog. Unterbeschäftigung. In der Unterbeschäftigung werden in der engsten Definition zusätzlich zu den registrierten Arbeitslosen auch die Personen erfasst, die nicht als arbeitslos im Sinne des SGB gelten, weil sie Teilnehmende an einer Maßnahme der Arbeitsmarktpolitik oder in einem arbeitsmarktbedingten Sonderstatus sind.

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Frauen fühlen sich allein unterwegs weniger sicher

Zu Beginn der Geschichte des Internationalen Frauentags war die Forderung nach der Einführung eines Frauenwahlrechts das bestimmende Thema. Inzwischen bringt er verschiedene Aspekte einer nicht erfolgten Frauengleichstellung zum Ausdruck (s. hier oder hier).

Dazu gehört das Sicherheitsgefühl und die Möglichkeit, sich sicher zu bewegen. Nehmen Frauen und Männer das Sicherheitsgefühl unterschiedlich wahr?

Weiterlesen: Frauen fühlen sich allein unterwegs weniger sicher

Daten

Hinweise dazu können aus einer repräsentativen wissenschaftlichen Studie „Zusammen|Leben heute – Deutsche Teilstudie der 10. Welle des European Social Survey (ESS)“ gewonnen werden. Geleitet wurde diese Studie durch das GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim. Im Auftrag hat das infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft 7.000 zufällig ausgewählte Personen im Alter von 15 bis 90 Jahren in Deutschland zwischen September 2021 und Januar 2022 befragt. Die absoluten Zahlen sind zur Korrektur der Ausfälle durch Anpassung der Strukturen der Stichprobe an die Strukturen der Grundgesamtheit gewichtet. Aus diesen Datensätzen lässt sich das Sicherheitsgefühl von Frauen und Männern (eine dritte Antwortmöglichkeit gab es nicht) erhellen.

Wie sicher fühlen Sie sich, oder würden Sie sich fühlen, wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit alleine zu Fuß in Ihrem Wohngebiet unterwegs sind oder wären?

Die Frage konnte mit „Sehr sicher“, „Sicher“, „Unsicher“ oder „Sehr unsicher“ beantwortet werden.

Analyse und Ergebnisse

Sehr sicher oder sicher fühlten sich 76,8 Prozent der befragten Männer (2.558), aber nur 54,0 Prozent der Frauen (1.872). Besonders deutlich unterscheidet sich das Sicherheitsgefühl bei der Antwort „sehr unsicher“: „Sehr unsicher“ fühlten sich rund 3,4 mal so häufig Frauen (423) als Männer (119).

Quelle der Daten: ESS 10. Runde; eigene Berechnungen für Deutschland

Frauen (1.594) fühlten sich insgesamt wesentlich unsicherer, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit alleine zu Fuß in ihrem Wohngebiet unterwegs sind oder wären.

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist signifikant (N der gültigen Fälle = 6798,97, Pearson Chi-Quadrat 505,47, df(3,00), p=.000) mit einem mittleren Effekt (Cramer’s V = .27).

Bedeutung

Hochgerechnet auf die Bevölkerung entsprechen 12,2 Prozent der sich „sehr unsicher“ fühlenden Frauen über 4 Mio. Betroffene.

Wenn sich Frauen wie Männer unsicher fühlen, kann das – unabhängig von den Gründen wie Belästigung – weitreichende Konsequenzen haben. So können sie in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe (z. B. Abendveranstaltungen, Kneipe) oder in ihrer Mobilität (z. B. bei Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs) eingeschränkt sein. Auch Arbeitszeiten am Abend oder Studienzeiten (Hochschulen) können erschwert sein.

Schlussfolgerung

Lokal gibt es unterschiedliche Gegenmaßnahmen wie Erkennungszeichen oder kostenloser Begleitservice. Die Stadt- und Straßenplanung bietet oftmals noch unausgeschöpftes Potenzial (z. B. Alltagswege zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Einrichtungen, Geschäften etc. so anordnen, dass möglichst viel Frequenz erzeugt wird; gute Beleuchtung; Gehwegbreiten; Spiegel bei schlecht einsehbaren Ecken), um (Sicherheits-) Bedürfnisse von Frauen stärker zu berücksichtigen.

Allerdings braucht es mehr, unter anderem mehr Respekt. Die öffentlichen Stellen (Bundes-, Landesregierungen, Kommunen, Polizei) aber auch Arbeitgeber müssen mehr und bessere Strategien auf den Weg bringen, um das Sicherheitsgefühl nachhaltig zu erhöhen.


Bundesweites Hilfetelefon Gewalt an Frauen:

Kostenlose Telefonhotline für Betroffene 08000 116 016

Die Nummer ist kostenlos und bundesweit rund um die Uhr erreichbar. Sie kann auch ohne Handyguthaben genutzt werden. Mehr Informationen unter: www.hilfetelefon.de

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Finanzielle Sorgen in der Bevölkerung – Unterschiede in Bundesländern

Mit dem Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine sind zahlreiche Kosten (z. B. Energie) gestiegen. In welchem Umfang macht sich die Bevölkerung in diesem Zusammenhang Sorgen, dass sich ihre finanzielle Situation verschlechtert? Und macht ihr Arbeitsmarktstatus einen Unterschied?

Daten

Um diese Frage zu beantworten, wurden Daten heranzogen, für die das Meinungsforschungsinstitut forsa im Auftrag des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung als repräsentative Bevölkerungsbefragung zum Thema Deutschland und der Ukraine-Krieg durchgeführt hat (*). Im Erhebungszeitraum 25.07.2022 bis 27.07.2022 wurde die deutschsprachige Wohnbevölkerung ab 14 Jahren in telefonischen Interviews (CATI) befragt. Die Auswahl der Befragten erfolgte durch eine mehrstufige Zufallsstichprobe. Von 1.501 Personen liegen Antworten vor. Für die folgenden Auswertungen wurden die Daten entsprechend der Bevölkerungsstruktur gewichtet.

Bei der Erhebung wurde unter anderem gefragt:

„Machen Sie sich im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine Sorgen, dass sich Ihre finanzielle Situation verschlechtert?“ (Frage 3)

und

„Für wie wahrscheinlich halten Sie, dass sich Ihre finanzielle Situation verschlechtert?“ (Frage 11)

Diesen Aussagen konnten auf einer Skala von ein bis vier bewertet werden (Frage 3: 1 = sehr große, 2 = große, 3 = weniger große, 4 = gar keine Sorgen; Frage 11: 1 = sehr wahrscheinlich, 2 = eher wahrscheinlich, 3 = weniger wahrscheinlich, 4 = gar nicht wahrscheinlich).

Analyse und Ergebnisse

Von 1.501 Befragten machen sich 46,3 % sehr große oder große Sorgen, dass sich ihre finanzielle Situation verschlechtert (Mittelwert 2,58). Und mehr als die Hälfte (53,3 %) halten dies für (sehr) wahrscheinlich (Mittelwert 2,37).

In Mecklenburg-Vorpommern machen sich die meisten Befragten Sorgen (Mittelwert 2,0) und am wenigsten in Bremen (Mittelwert 2,8).

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die finanzielle Situation verschlechtert, liegt höher. In Sachsen-Anhalt rechnen die Befragten am häufigsten mit einer Verschlechterung (Mittelwert 1,97) und am wenigsten in Hamburg (Mittelwert 2,52).

Die Varianzhomogenität war gemäß dem Levene-Test nicht gegeben (p< .002 finanzielle Verschlechterung; p< .007 Wahrscheinlichkeit der Verschlechterung). Es wurde eine einfaktorielle ANOVA berechnet, um zu untersuchen, ob es einen Unterschied in der Einschätzung zwischen den Befragten in den Bundesländern gibt. Der Test zeigte einen signifikanten Unterschied in der Einschätzung der Verschlechterung zwischen den Bundesländern, F (15, 1485)=29,96, p < 0,002. Die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit war zwischen den Bundesländern nicht signifikant (dafür in den Bundesländern), F (15, 1485)=16,16, p < 0,272.

Der Games-Howell post-hoc-Test für heterogene Varianzen zeigte einen signifikanten Unterschied in der Einschätzung der Verschlechterung zwischen bestimmten Bundesländern (paarweiser Vergleich ohne Darstellung der Konfidenzintervalle).

Einschätzung der Verschlechterung zwischen bestimmten Bundesländern
BundeslandMittelwertPaarweiser Vergleich (Differenz zum Bundesland-Mittelwert)
Baden-Württemberg0,77Mecklenburg-Vorpommern (p = .035)

Schließlich wird aus den Zahlen deutlich, dass der Arbeitsmarkt-Status einen Unterschied macht.

ArbeiterInnen machen sich zu rund 80 % Sorgen, dass sich ihre finanzielle Situation verschlechtert. Am wenigsten von Sorgen betroffen sind BeamtInnen. Arbeitslose sind in der Kategorie „Rest“ zu verorten. Auch diese Gruppe liegt noch über dem Durchschnitt mit 47,7 %.

ArbeiterInnen unterscheiden sich signifikant von den anderen Statusgruppen, mit Ausnahme der Hausfrauen/-männer und der Gruppe „Rest“.

Die nicht-genderten-Begriffe stammen aus der Befragung.

Schlussfolgerung

Ein sehr großer Teil der Bevölkerung machte sich sehr große oder große Sorgen, dass sich ihre finanzielle Situation verschlechtert im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Dies trifft für alle Bundesländer zu, sodass es kaum Unterschiede zwischen den Bundesländern gibt (mit Ausnahme Baden-Württemberg im Vergleich zu Mecklenburg-Vorpommern).

Mehr als die Hälfte der Befragten halten eine solche finanzielle Verschlechterung für wahrscheinlich.

Je nach Status der Erwerbstätigkeit variiert der Anteil der Befragten, die sich sehr große oder große Sorgen, dass sich ihre finanzielle Situation im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine verschlechtert. Dabei machten sich die Arbeiter*innen am häufigsten Sorgen – vier von fünf Betroffenen. Auch wenn sich BeamtInnen von den Statusgruppen am wenigsten Sorgen machen, ist der Anteil unter ihnen mit Sorgen dennoch hoch (rund 37 %).

Seit der Befragung sind einige Entlastungen der Bevölkerungen durch die Regierungen in Bund und Land realisiert worden. Allerdings wurde hier in der öffentlichen Diskussion kritisiert, dass die Betroffenen unterschiedlich davon partizipieren.

Auf Dauer bleiben viele Personen mit großen finanziellen Sorgen nicht ohne Folgen für den sog. sozialen Frieden.

*Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin (2023). Trendfragen Ukraine (Woche 30/2022). GESIS, Köln. ZA7911 Datenfile Version 1.0.0, https://doi.org/10.4232/1.14043

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Inflation und Leistungsbilanz: Zusammenhang verändert sich

Der seit 25 Jahren bestehende enge Zusammenhang zwischen dem Leistungsbilanzsaldo und Verbraucherpreisindex (Inflation) hat sich in 2022 deutlich gelockert (zum Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit).

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Wanderungen von AusländerInnen über die Grenzen Deutschlands: viele gehen wieder

Seit Jahrzehnten polarisieren die Positionen, dass ohne Fachkräfte aus dem Ausland Wohlfahrtsverluste drohen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite werden AusländerInnen als bedrohlich dargestellt. Nun werden von der Bundesregierung „Chancenkarten“ und andere Regelungen, nach dem es schon zahlreiche Versuche gab, auf den Weg gebracht, um die Einwanderung zu ermöglichen, aber auf Fachkräfte zu begrenzen.

Dabei wird selten analysiert und begründet, warum zugezogene AusländerInnen wieder wegziehen. Ohne diese Betrachtung werden Regelungen zur erleichterten Einwanderung Fachkräfte nicht zum dauerhaften Bleiben motivieren.

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Flüchtlinge organisieren sich selbst

Der praktische Regelfall der Sozialarbeit und Sozialpädagogik ist oft immer noch, dass ihren Zielgruppen geholfen wird. Aktuell stehen die Flüchtlinge, insbesondere aus der Ukraine, im Fokus.

Unter dem Radar einer größeren Öffentlichkeit gibt es Initiativen von Flüchtlingen, die sich selbst organisieren. Beispielhaft seien im Folgenden zwei genannt.

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